Zweiter Artikel. Auch der nicht durch die Liebe geformte Glaube ist eine Gnadengabe Gottes.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. „Die Werke Gottes sind vollkommen;“ nach Deut. 32. Ein solcher Glaube aber ist nicht vollkommen. II. Ein Akt ist mißgestaltet, weil er der gebührenden Form ermangelt; und ebenso ist ein Glaubensakt mißgestaltet, welcher der gebührenden Form der Liebe entbehrt. Ein mißgestalteter Akt aber ist Sünde und kommt somit nicht von Gott. III. Wen Gott heilt, den heilt Er vollständig, nach Joh. 7.: „Wenn nun der Mensch die Beschneidung am Sabbath empfängt, damit nicht das Gesetz Mosis gelöst werde; warum zürnt ihr mir, daß ich den ganzen Menschen heil gemacht habe am Sabbath?“ Wer also die Gabe des Glaubens von Gott empfängt, der wird heil von allen Sünden, was nur durch den in der Liebe vollendeten Glauben geschehen kann. Also ist der ungeformte Glaube nicht von Gott. Auf der anderen Seite sagt Augustin (fragm. serm. de 5. pan.) zu 1. Kor. 13.: „Der Glaube, der ohne Liebe ist, ist eine Gabe Gottes.“ Dies ist aber der ungeformte Glaube.
b) Ich antworte, die Unvollendung im Glauben sei ein Mangel. Nun giebt es einen Mangel, der zum Wesenscharakter der Gattung gehört; und es giebt einen anderen Mangel, der zur Sache hinzutritt, während diese bereits in ihrer Wesensgattung hergestellt ist. So ist der Mangel an der gebührenden Abmessung der Säfte gegeneinander zum Wesen der Krankheit gehörig; das Dunkel aber gehört nicht zum Wesen des Durchscheinenden, sondern tritt hinzu. Weil nun also, wenn die Ursache irgend eines Dinges hervorgehoben wird, man darunter versteht, man wolle die Ursache angeben, derentwegen dieses Ding in der ihm eigenen Wesensgattung sich findet; — so kann nicht Jenes als Ursache eines Dinges, dessen Wesen der Mangel anhaftet, bezeichnet werden, was nicht die Ursache des Mangels selber ist. So nämlich kann man nicht Jenes als Ursache der Krankheit bezeichnen, was nicht Ursache des Mangels an der gebührenden Abmessung der Säfte gegeneinander ist. Wohl aber kann etwas Ursache des durchscheinenden Dinges sein, obgleich es nicht Ursache des Dunkels ist, welches ja nicht zum Wesen des Durchscheinenden gehört. Die Unvollendung des Glaubens aber gehört nicht zum Wesenscharakier des Glaubens selber, da der Glauben ungeformt genannt wird wegen des Mangelns einer von außen hinzutretenden Form. Jenes also ist die Ursache des ungeformten, in der Liebe nicht vollendeten Glaubens, was Ursache des Glaubens überhaupt ist. Das aber ist Gott. Der ungeformte Glaube also ist eine Gabe Gottes.
c) I. Der ungeformte Glaube ist nicht schlechthin vollkommen, insoweit er nicht die Vollendung einer Tugend besitzt. Er besitzt aber vollkommen den Wesenscharakter des Glaubens an sich, soweit es auf diesen allein ankommt. II. Das Mißgestaltete im Akte der Sünde gehört zum inneren Wesen der Sünde; es ist der Mangel in der inneren Form, die da besteht in der gebührenden Abmessung der Umstände des menschlichen Aktes. Gott also verursacht wohl den Akt als Akt, aber nicht den wesentlich mißgestalteten Akt; denn Er verursacht nicht die Mißgestalt. Oder: Die Mißgestalt schließt nicht nur den Mangel der gebührenden Form ein, sondern auch die der letzteren entgegengesetzte Verfassung, so daß eine solche Mißgestaltung sich verhält zum Akte wie das Falsche zum Glauben. Wie also ein mißgestalteter Akt nicht von Gott ist, so auch kein falscher Glaube; und wie der ungeformte Glaube von Gott ist, so sind auch jene Akte von Gott, die ihrer Art nach gut sind, obgleich nicht durch die Liebe vollendet; wie das bei Personen im Stande der Todsünde oft eintrifft. III. Wer von Gott den Glauben empfängt ohne die Liebe, der wird nicht schlechthin heil von der Ungläubigkeit; denn die mit letzterer verbundene Schuld wird nicht entfernt. Er wird jedoch nach einer gewissen Richtung hin heil, damit nämlich diese seine Sünde der Ungläubigkeit thatsächlich aufhöre. Das aber kommt häufig vor, daß jemand mit Gottes Hilfe von einer Sünde absteht und thatsächlich aus eigener Bosheit in einer anderen fortfährt. So nun wird manchmal dem Menschen gegeben, daß er glaube; nicht aber daß er die heilige Liebe habe; wie manchem ohne die Gnadengabe der Liebe die Gabe der Weissagung zu teil wird.
