Erster Artikel. Das Verständnis ist eine Gabe des heiligen Geistes.
a) Das Gegenteil scheint festzustehen. Denn: I. Was vom heiligen Geiste als Gnadengabe kommt, das ist unterschieden vom Natürlichen. Das Verständnis aber ist ein Zustand, welcher mit der Natur der vernünftigen Seele gegeben ist. Also ist es keine Gabe des heiligen Geistes. II. Die göttlichen Gaben werden den Kreaturen mitgeteilt gemäß deren Verhältnissen und Seinsbedingungen, nach Dionysius (de div. nom. 4.). Die Art und Weise der menschlichen Natur aber ist es, daß sie nicht einfach und schlechthin die Wahrheit auffaßt (was zum Wesen des Verständnisses gehört), sondern nach und nach zu deren Kenntnis gelangt, indem sie vom Einen auf das Andere schließt (de div. nom. 7.). Also die Kenntnis Gottes, wie sie den Menschen verliehen wird, muß vielmehr die Gabe des schließenden Verstandes heißen wie die des Verständnisses. III. Verständnis heißt Verstehen; keine Gabe aber wird einfach Wollen genannt. Auf der anderen Seite heißt es Isai. 11.: „Es wird ruhen auf Ihm der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verständnisses.“
b) Ich antworte, der Name „Verständnis“ bezeichne eine gewisse bis ins Innere dringende Kenntnis, vermöge deren man imstande ist, das Äußere zu leiten, „vorzustehen.“ Nun giebt es manches Sein, was im Innern eines Dinges verborgen ist, wozu der Sinn nicht vordringt. Denn unter den äußeren Eigenschaften, die man mit den Sinnen wahrnehmen kann, ist verborgen die Substanz oder die Natur des Dinges; unter den Worten ist verborgen ihre Bedeutung; unter Zeichen und Figuren das Bezeichnete; in den Ursachen ist verborgen die Wirkung. Mit Rücksicht auf dies Alles spricht man von „Verständnis“. Da nun die Kenntnis des Menschen vom Sinne, also gleichsam vom Äußerlichen beginnt, ist es offenbar, daß sie desto mehr ins Innere vordringen wird, je stärker das Licht der Vernunft durchleuchtet. Das natürliche Licht der Vernunft aber ist begrenzt und beschränkt. Der Mensch bedarf also eines übernatürlichen Lichtes, um darüber hinaus zu erkennen das, was er mit dem Lichte seiner natürlichen Vernunft nicht zu erkennen vermag. Und dieses übernatürliche Licht nennt man die Gabe des Verständnisses.
c) 1. Kraft des Lichtes des natürlichen Verständnisses werden nur die Allem gemeinsamen Grundprincipien verstanden, welche auf Grund der Natur bekannt sind. Weil aber der Mensch noch darüber hinaus hingeordnet ist zur übernatürlichen Seligkeit, so bedarf er eines weiteren Lichtes, um Höheres zu erkennen; und dieses Licht ist die Gabe des Verständnisses. II. Immerdar hat das Schließen der Vernunft vom Einen auf das Andere seinen Beginn in einem Verständnisse und mündet wieder in das, was man einfach versteht. Denn wir fangen an, zu schließen mit dem, was wir verstehen; und wir hören auf, wenn wir verstehen, was uns bis dahin unbekannt war. Die Gabe der Gnade nun geht nicht aus vom Lichte der Natur, sondern wird als dessen Vollendung hinzugefügt. Also heißt auch dieses hinzugefügte Licht mit Recht nicht so sehr „schließende Verstandeskraft“ wie „Verständnis“ oder Einsicht. Denn so verhält sich das übernatürliche hinzugefügte Licht zu dem, was übernatürlicherweise gekannt wird; wie sich verhält das natürliche Licht zu dem, was wir in erster Linie, im Beginne, erkennen. III. Das „Wollen“ bezeichnet einfach die Bewegung des Begehrens ohne irgendwelche weitere Bestimmung, die einen gewissen Vorzug in sich schlösse. „Verstehen“ aber will besagen ein durchdringendes, in die Tiefe gehendes Erkennen. Deshalb giebt es wohl eine übernatürliche Gabe, die „Verständnis“ genannt wird; keine aber, die „Wollen“ heißt.
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