Zehnter Artikel. Das Wachstum in der heiligen Liebe schließt nicht ein das Minderwerden der Furcht.
a) Das Gegenteil wird behauptet von: I. Augustin: „Je mehr die heilige Liebe wächst, desto mehr nimmt ab die Furcht.“ (l. c.) II. Wächst die Hoffnung, so wird minder die Furcht. Die Hoffnung aber wächst mit der Liebe. III. Die Liebe eint, die Furcht trennt. Wächst also die Einigung, so wird minder die Trennung. Auf der anderen Seite sagt Augustin (83 Qq. 36.): „Die Furcht Gottes vollendet die Weisheit, welche an erster Stelle Gott den Herrn liebt und den Nächsten wie sich selbst.“
b) Ich antworte, die kindliche Furcht, welche fürchtet den Vater zu beleidigen und sich von Ihm zu trennen, müsse wachsen mit der heiligen Liebe, wie die Wirkung wächst mit dem Wachsen der Ursache. Denn je mehr jemand seinen Vater liebt, desto mehr hat er Furcht, ihn zu beleidigen. Die knechtische Furcht aber, welche nur auf die Strafe sich richtet, schwindet beim Eintreten der heiligen Liebe ganz, soweit es das rein Knechtische anbelangt; — sie bleibt allerdings der Substanz nach, jedoch mindert sich ihr Akt oder ihre thatsächliche Äußerung um so mehr als die heilige Liebe wächst. Denn je mehr jemand Gott liebt, desto weniger hat er acht auf die Strafe; weil er einerseits weniger achtet auf das ihm eigens gehörige Gute und weil er andererseits fester ist im Hoffen auf den ewigen Lohn und somit an die Strafe wenig denkt.
c) I. Augustin spricht von der Furcht vor der Strafe. II. Die Furcht vor Strafe wird minder mit dem Wachsen der Hoffnung, welche uns zuverlässiger die Erreichung des Guten kraft des göttlichen Beistandes erwarten läßt und so vor Gott mehr Ehrfurcht einflößt. III. Die kindliche Furcht schließt kein Trennen ein, sondern vielmehr eine gewisse Unterwürfigkeit unter Gott. Nur insofern besagt sie Trennung, als sie immer weniger es wagt, sich Gott gleich zu dünken und sich Ihm zu entziehen. Dasselbe findet sich in der Liebe, so daß das Wachstum der Liebe diese Furcht vermehrt.
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