Sechster Artikel. Nicht kraft jeglichen Liebesaktes wird die heilige Liebe vermehrt.
a) Dagegen spricht: I. Wer das kann, was größer ist; der kann auch das, was geringer ist. Jeder Liebesakt aber kann das ewige Leben verdienen; also verdient er auch die bloße Vermehrung der Liebe. II. Bei den erworbenen Tugenden wirkt jeder Tugendakt mit zum Erzeugen der Tugend. Also wirkt auch um so mehr jeder Liebesakt mit zur Vermehrung der Liebe. III. Gregor sagt (Pastoral. 3., cap. 1): „Stehen bleiben auf dem Wege Gottes heißt zurückgehen.“ Jeder also, der einen Liebesakt macht, geht in der Liebe voran. Auf der anderen Seite überragt die Wirkung nicht die Kraft der Ursache. Manchmal aber macht man einen Liebesakt mit einer gewissen Kälte, mit Nachlässigkeit und mit Zaudern. Er kann also nicht zu einer höheren Liebe führen, sondern bereitet eher vor für eine Verminderung der Liebe.
b) Ich antworte, die Vermehrung der geistigen Liebe sei in gewissem Sinne ähnlich dem körperlichen Anwachsen. Dieses aber ist in den Pflanzen und Tieren nicht beständiges In-Bewegung-sein; so nämlich, daß wenn etwas in einer gewissen gegebenen Zeit so viel vermehrt wird, es im Verhältnisse in jedem Teile dieser Zeit ebenso viel vermehrt werde, wie dies bei der Bewegung von Ort zu Ort der Fall ist. Vielmehr wirkt die Natur durch eine gewisse Zeit hindurch nur vorbereitend für das Wachstum, ohne daß etwas thatsächlich zuwüchse; und nachher bringt sie die Wirkung hervor, zu der sie vorbereitet hatte, indem sie dem thatsächlichen Sein nach das Tier, die Pflanze wachsen läßt. So bereitet wohl jeder Liebesakt die Seele vor für das Wachstum der Liebe, insoweit infolge des einen der Mensch bereitwilliger wird für die Setzung des anderen Aktes. Aber nicht vermehrt jeder dem thatsächlichen Sein nach die Liebe; sondern erst, wenn die Bereitwilligkeit hinlänglich zugenommen hat, dann bricht der Mensch in einen feurigeren Liebesakt aus und dann vollzieht sich das thatsächliche Wachstum.
c) I. Jeder Liebesakt verdient das ewige Leben; dieses aber wird zu seiner Zeit verliehen. So verdient auch jeder Liebesakt wohl die Vermehrung der Liebe; aber nicht sogleich vollzieht sich das thatsächliche Wachstum. II. Jeder Tugendakt bereitet vor für die Erzeugung einer erworbenen Tugend; nicht aber vervollständigt er immer thatsächlich diese Erzeugung. Der letzte nur als der mehr vollendete, der da wirkt kraft aller voraufgehenden Akte, bethätigt wirklich die Erzeugung; wie dies auch bei den vielen Tropfen der Fall ist, die den Stein höhlen. III. Auf dem Wege Gottes geht man voran, auch wenn man vorbereitet wird für die Vermehrung der Liebe; und nicht nur, wenn dieselbe thatsächlich sich vermehrt.
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