Dritter Artikel. Das gesunde Urteil ist eine Tugend.
a) Dem steht entgegen: I. Das gesunde Urteil wohnt von Natur vielen inne; also ist es keine Tugend. II. Das bloße Urteilen ohne Vorschreiben kann auch in den bösen sein. III. Ist das gesunde Urteil schon eine Tugend, so ist die Klugheit als jene Tugend, die vorschreibt, überflüssig. Denn ist im Vorschreiben ein Mangel, so kommt dieser vom Mangel im Urteilen. Auf der anderen Seite steht das Urteilen höher wie das Beraten. Ist also das gute Beraten eine Tugend, dann um so mehr das gesunde Urteil.
b) Ich antworte, die Synesis besage ein gesundes Urteil betreffs des vom Menschen zu Thuenden; danach werden die Menschen wörtlich als „gutgesinnt“ σύνετοι, oder εὐσύνετοι, als gesunden Sinnes bezeichnet. Das Gute im Beraten und das Gute im Urteilen kommt nun nicht aus der nämlichen Quelle; denn manche haben ein gesundes Urteil und trotzdem wenig Erfindungsgabe im Beraten und umgekehrt. Letztere nämlich hängt ab von der Verfassung der Einbildungskraft, welche leicht verschiedene Phantasiebilder formen kann; wogegen das gesunde Urteil abhängt von der Schärfe des Verständnisses, die im Zusammenhange steht nicht selten mit der guten Verfassung des Gemeinsinnes, der über die Wahrnehmungen der äußeren Sinne zu urteilen hat. Also bestehen hier zwei Tugenden: das gute Beraten, die εὐβουλία; und das gesunde Urteil, die σύνεσις.
c) I. Das gesunde Urteil hängt ab von der guten Auffassung, welche den Gegenstand so erfaßt, wie er ist. So erscheinen im Spiegel, wenn er in guter Verfassung ist, die körperlichen Formen, wie sie sind; ist er in schlechter Verfassung, so erscheinen diese Formen verdreht. Nun ist die natürliche Anlage allerdings die erste Ursache für die gute Verfassung der auffassenden Kräfte; jedoch vervollkommnet die Übung diese Anlage der Natur oder auch die Gnade thut dies. Und zwar geschieht dies 1. von seiten der erkennenden Kraft selbst, die nicht mit schlechten Auffassungen angefüllt ist, sondern mit wahren und rechten; und das kommt eben von der synesis, dem gesunden Sinn, als einer besonderen Tugend; — 2) von seiten der guten Verfassung der begehrenden Kraft, so daß infolge dessen der Mensch gut urteilt über das Begehrbare; und so folgt das gesunde Urteil als Tugend den Zuständen der moralischen Tugenden, die zum Zwecke sich wohl und gut verhalten; — die synesis ist mehr dem Zweckdienlichen zugewendet. II. Im allgemeinen können die bösen ein gesundes Urteil haben; nicht aber betreffs dessen, was im besonderen zu thun ist. (Kap. 47, Art. 13.) III. Was gut geurteilt ist, kann manchmal verschoben oder vernachlässigt werden; und so bedarf es noch der hauptsächlichen Tugend, die gut vorschreibt, der Klugheit.
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