Zweiter Artikel. Die Unklugheit ist eine besondere eigene Sünde.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Wer sündigt, handelt immer gegen die Richtschnur der Vernunft, also gegen die Klugheit. Jede Sünde also ist Unklugheit. II. Die Klugheit steht den moralischen Thätigkeiten näher wie die Wissenschaft. Unkenntnis aber ist eine allgemeine Ursache der Sünde; also noch weit mehr die Unklugheit. III. Die Sünden kommen von der Nichtbeachtung der einzelnen Umstände der Tugenden: „Das Übel kommt vom Mangel in Einzelheiten,“ heißt es 4. de div. nom. Vieles aber wird zur Klugheit verlangt, wie Gelehrigkeit, Verständnis etc. Also bestehen viele Arten Unklugheit; und somit ist sie keine eigene besondere Sünde. Auf der anderen Seite ist die Unklugheit das positive Gegenteil der Klugheit; diese aber ist eine besondere Tugend. Also ist die Unklugheit eine besondere Sünde.
b) Ich antworte, eine Sünde sei eine allgemeine, entweder weil sie sich in jeder Sünde findet; oder weil sie gemeinsam ist als „Art“ vielen Untergattungen. In der ersten Weise allgemein kann nun wieder eine Sünde sein 1. kraft ihres Wesens, weil sie von allen Sünden ausgesagt wird; und so ist die Unklugheit nicht eine allgemeine Sünde, ebenso wie die Klugheit keine allgemeine Tugend ist; denn sie richtet sich auf besondere Akte, nämlich auf die Akte der Vernunft; — 2. kraft einer gewissen Anteilnahme; und so ist die Unklugheit eine allgemeine Sünde. Denn wie die Klugheit die leitende Richtschnur ist für alle Tugenden, so nehmen alle Sünden an der Unklugheit teil; in jeder Sünde nämlich ist ein Mangel seitens der leitenden Vernunft, was der Unklugheit zugehört. Insoweit aber eine Sünde allgemein oder gemeinsam genannt wird, weil sie viele Gattungen in sich enthält, ist die Unklugheit eine allgemeine Sünde. Denn wie die Klugheit nach ihren subjektiven Teilen (s. oben) unterschieden wird in die Klugheit, welche die Thätigkeiten der einzelnen Personen als einzelnen regelt, und in die anderen Gattungen von Klugheit, die auf eine bestimmte Menge sich richten (Kap. 48 und 50), so geschieht es auch mit der Unklugheit. Ebenso verhält es sich mit den Potentialen. Teilen, also mit den zur Klugheit hinzutretenden Tugenden. Da steht dem guten Beraten gegenüber die Überstürzung oder Verwegenheit; dem besonnenen und scharfen Urteilen die Unüberlegtheit; dem Vorschreiben die Unbeständigkeit. Und insoweit die integralen Teile der Klugheit, welche den klugen Akt zusammensetzen, insgesamt Beziehung dazu haben, um diese drei Akte der Vernunft, das Beraten, Urteilen, Vorschreiben recht zu leiten, so lassen sich die entgegengesetzten Mängel alle auf die eben erwähnten zurückführen: der Mangel an Vorsicht und Umsicht auf die Unüberlegtheit; der Mangel an Gelehrigkeit, Gedächtnis, an Kraft zu schließen auf Überstürzung; der Mangel an Besorgtheit etc. auf Nachlässigkeit und Unbeständigkeit.
c) I. Da ist die Rede von der Anteilnahme der anderen Sünden an der Unklugheit. II. Die Wissenschaft ist weiter entfernt vom Bereiche des Moralischen wie die Klugheit, weshalb die Unkenntnis eigentlich nicht den Charakter einer Todsünde hat, sondern den einer gewissen Nachlässigkeit; und somit den Sünden im allgemeinen vorhergeht. Die Unklugheit aber ist ihrem Wesenscharakter nach eine Todsünde. III. Kommt die Vernachlässigung verschiedener Umstände von dem nämlichen Beweggrunde, so folgt kein Unterschied in den Gattungen der Sünde; wie es das Gleiche ist, wenn jemand fremdes Gut an sich nimmt, an welchem bestimmten Orte oder zu welcher bestimmten Zeit auch immer er es an sich nimmt. Ist der Beweggrund ein verschiedener, so folgt die Verschiedenheit in der Sünde; wie wenn jemand fremdes Gut an sich nimmt an einem ungebührlichen Orte, damit er den heiligen Ort entweihe, was dann ein Gottesraub oder Sakrileg ist. Der Mangel also in dem zur Klugheit Erforderlichen macht keinen Unterschied in der Gattung, außer wann er Beziehung hat zu verschiedenen Thätigkeiten der Vernunft.