Siebenter Artikel. Es giebt außer der „allgemeinen“ Gerechtigkeit noch eine besondere.
a.) Dies wird geleugnet. Denn: I. In den Tugenden wie in der Natur ist nichts Überflüssiges. Die eine einige „gesetzliche“ Gerechtigkeit aber regelt hinreichend alle Beziehungen des einen zum anderen. II. Das „Eine“ und das „Viele“ ist an sich kein Grund für den Unterschied im Wesen der Tugenden. Die „gesetzliche“ Gerechtigkeit aber lenkt den Menschen mit Rücksicht auf das Viele. Also macht dies keine eigene besondere Gerechtigkeit, wie jemand sich zum einzelnen Nächsten verhält. III. Zwischen dem Staate und dem einzelnen steht die Vielheit in der Familie. Giebt es also eine eigene Gerechtigkeit, die zum Staatsbesten hinlenkt, und eine eigene, die das Privatbeste berücksichtigt, so müßte auch eine eigene Gerechtigkeit bestehen, welche sich auf das Familienbeste richtet; was nicht angenommen wird. Auf der anderen Seite sagt Chrysostomus zu Matth. 5. (hom. 15.): „Als Gerechtigkeit bezeichnet der Herr entweder die allgemeine Tugend oder eine besondere, die dem Geize entgegen ist.“
b) Ich antworte, die „gesetzliche“ Gerechtigkeit sei nicht jede Tugend dem Wesen nach, sondern abgesehen von ihr, die da den Menschen zum Gemeinbesten hin regelt, müssen andere Tugenden bestehen, welche den Menschen mit Rücksicht auf besondere, beschränkte Güter lenken; und diese können sich beziehen auf die eigene Person oder auf eine andere einzelne Person. Die Mäßigkeit und Stärke nun bestehen, um den Menschen mit Rücksicht auf seine eigene Person zu regeln; sonach muß eine besondere Gerechtigkeit noch als Tugend bestehen, die den Menschen mit Rücksicht auf die anderen als einzelne Personen regelt.
c) I. Unmittelbar regelt die „gesetzliche“ Gerechtigkeit den Menschen, soweit es auf das Gemeinbeste ankommt; und erst vermittelst dessen, also als ein Glied oder als einen Teil im Ganzen, regelt sie den einzelnen Menschen mit Bezug auf den anderen einzelnen. Sonach muß eine weitere besondere Gerechtigkeit bestehen, welche unmittelbar die Beziehung zu einem anderen einzelnen regelt. II. Der Nnterschied zwischen dem Gemeinbesten und dem Privatbesten ist ein formaler, d. h. wesentlich einschneidender und nicht allein gemäß einem Mehr oder Minder. Denn ein anderer Wesenscharakter wohnt dem Ganzen inne und ein anderer dem Teile. Deshalb schreibt Aristoteles (1 Polit. 1.): „Nicht die richtige Ansicht haben jene, welche meinen, Staat und Familie und anderes Derartige seien nur auf Grund der mehr oder minder großen Menge unterschieden und nicht dem Wesen nach.“ III. Die Familie besteht aus drei Verbindungen: 1. des Vaters und des Sohnes, 2. des Mannes mit der Frau, 3. des Herrn und des Knechtes; und in jeder dieser Verbindungen ist die eine dieser Personen zu der anderen zugehörig. Deshalb besteht da nicht schlechthin Gerechtigkeit, sondern eine gewisse Art Gerechtigkeit, nämlich die „Familiengerechtigkeit“. (5 Ethic. 6.)
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