Vierter Artikel. Wer Ungerechtigkeit verübt, sündigt schwer.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Die läßliche Sünde steht der schweren gegenüber. Manchmal aber ist es nur eine läßliche Sünde, Unrechtes zu thun, wie Aristoteles sagt (5 Ethic. 8.): „Was man nicht nur als in Unkenntnis befindlich, sondern auf Grund von Unkenntnis thut, verdient Nachlaß;“ ist also läßliche Sünde. II. Wer in Geringem Unrecht thut, weicht nur wenig von der rechten Mitte ab. Das ist aber zu dem am wenigsten Üblen zu rechnen, nach 2 Ethic. ult. III. Die heilige Liebe ist die Mutter aller Tugenden; und auf Grund des Gegensatzes zu ihr ist eine Sünde schwer. Nicht alle Sünden aber, die den anderen Tugenden entgegengesetzt erscheinen, sind schwere Sünden. Also ist es auch nicht in jedem Falle schwere Sünde, Unrecht zu thun. Auf der anderen Seite richtet sich jede Ungerechtigkeit gegen die Gebote Gottes, sei es daß sie auf Diebstahl oder auf Ehebruch u. dgl. sich zurückführen läßt. Was aber gegen das Gebot Gottes ist, das ist schwere Sünde. (Vgl. Kap. 64.)
b) Ich antworte, Todsünde sei jene Sünde, die im Gegensatze zur heiligen Liebe steht, worin das Leben der Seele besteht. Die Liebe aber bestimmt dazu, dem anderen Gutes zu wollen und ihm Gutes zu thun. Also ist die Ungerechtigkeit, die dem Nächsten immer Schaden zufügt, auch immer Todsünde, soweit ihre „Art“ in Betracht kommt.
c) I. Die Unkenntnis des vorliegenden Thatbestandes, der einzelnen Umstände nämlich, macht auf Nachlaß Anspruch; die Unkenntnis des Rechtsverhältnisses aber, also des betreffenden Gebotes, entschuldigt nicht. Denn wer den Thatbestand nicht wissend Unrecht thut, der thut es nicht mit Absicht. II. Wer in geringen Dingen Unrecht thut, dessen That schließt nicht den vollen Wesenscharakter des Unrechts ein, insofern man erachten kann, es sei dies nicht so ganz und gar gegen den Willen dessen, der Unrecht leidet; wie, wenn jemand z. B. einen Apfel stiehlt, es wahrscheinlich ist, daß der andere dadurch nicht verletzt wird und daß ihm dies nicht so sehr mißfallt. III. Die Sünden gegen die anderen Tugenden gereichen nicht immer anderen Menschen zum Schaden, sondern schließen mit Rücksicht auf die Leidenschaften eine gewisse Regellosigkeit ein.
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