Zweiter Artikel. Die Undankbarkeit ist eine eigene besondere Sünde.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Alle Sünde ist Undankbarkeit gegen Gott. II. Jeder Art Sünde kann Undankbarkeit anhaften; wenn z. B. jemand den Wohlthäter bestiehlt, ihn verkleinert etc. III. Seneca (3. de benefic. 1.) schreibt: „Undankbar ist wer heuchelt; undankbar wer nicht erkenntlich ist; am undankbarsten, wer vergißt.“ Das sind aber der Gattung nach verschiedene Sünden. Auf der anderen Seite steht die Undankbarkeit gegenüber der Dankbarkeit, einer speciellen Tugend; also ist sie auch eine specielle eigene Sünde.
b) Ich antworte, jede Sünde werde gemäß einem Mangel an Tugend dann benannt, wenn sie der betreffenden Tugend mehr entgegengesetzt ist; wie die Unmäßigkeit der Mäßigkeit in höherem Grade entgegengesetzt ist als die Stumpfsinnigkeit. Es kann nun wohl auf Grund des „zuviel“ ein Fehler entgegen sein der Dankbarkeit, wie wenn jemand dankbar ist demjenigen gegenüber, welchem er es nicht sein sollte oder wofür er es nicht sollte oder wann und wie er es nicht sollte. Mehr aber steht der Dankbarkeit entgegen der Fehler auf Grund des „zuwenig“; denn dem Wesen der Dankbarkeit kommt es zu, nach „mehr“ zu streben, nämlich mehr zu erstatten als man erhalten. Also auf Grund des Mangels gerade wird eine Sünde Undankbarkeit genannt. Jeder Mangel aber erhält seinen Wesenscharakter gemäß dem entgegenstehenden Zustande; wie z. B. Blindheit und Taubheit sich voneinander unterscheiden gemäß dem Sehen und Hören. Wie also Dankbarkeit eine besondere Tugend ist, so ist die Undankbarkeit eine specielle Sünde Nun giebt es in der Dankbarkeit verschiedene Grade; nämlich 1. daß jemand die empfangene Wohlthat anerkennt; — 2. daß er den Wohlthäter lobt und ihm dankt; — 3. daß er nach Zeit und Umständen erkenntlich ist insoweit es ihm möglich erscheint. Weil aber was das Letzte ist im Erzeugen oder Aufbauen als das Erste dasteht im Auflösen, so ist der erste Grad der Undankbarkeit, daß man nicht erkenntlich ist, wenn die Gelegenheit es fordert; — der zweite, daß man heuchelt, als ob man keine Wohlthat empfangen hätte; — der dritte, daß man nicht einmal die Wohlthat anerkennt d. h. sie vergißt. Und da in der Verneinung eingeschlossen ist die entgegenstehende Bejahung, so gehört zum ersten Grade der Undankbarkeit, daß man Böses vergilt für Gutes; zum zweiten, daß man die Wohlthat tadelt; zum dritten, daß man die Wohlthat als Übelthat betrachtet.
c) I. In jeder Sünde thut der Mensch etwas, was zur Undankbarkeit gehören kann; d. h. es ist da etwas material Undankbares. Formal undankbar ist aber jener, der die Wohlthat als solche verachtet; und das ist die specielle Sünde der Undankbarkeit. II. In vielen Sünden findet sich das, was zur Undankbarkeit gehören kann; also das Materiale der Undankbarkeit. III. Jene drei sind drei verschiedene Stufen, nicht Gattungen.
