Vierter Artikel. Die Hinneigung der Tugend der Wahrheit dazu, daß man lieber weniger sage wie mehr.
a) Die Tugend der Wahrheit neigt nicht dazu, weniger zu sagen. Denn: I. Fünf sei vier ist ebenso falsch wie drei sei vier. „Alles Falsche aber ist an sich ein übel.“ (4 Ethic. 7.) II. Die Stärke z. B. steht näher der Kühnheit wie der Furchtsamkeit, weil die rechte Mitte dieser Tugend dem einen Äußersten verwandter ist wie dem anderen. Letzteres aber ist bei der Wahrheit nicht der Fall, die da eine strenge Gleichheit des Zeichens mit dem Bezeichneten ist. III. Wer die Wahrheit leugnet, also weniger sagt, steht mehr im Gegensatze zur Wahrheit, wie jener, der etwas hinzufügt, also mehr sagt. Denn die Wahrheit verträgt sich nicht mit der Leugnung der Wahrheit; bleibt aber bestehen, wenn hinzugefügt wird. Also neigt die Wahrheit lieber zum „Mehr“ wie zum „Minder“. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (I. c.): „Gemäß dieser Tugend sagt der Mensch lieber etwas weniger.“
b) Ich antworte, man kann weniger sagen: 1. insofern man etwas behauptet; wie wenn jemand nicht das ganze Gute, was er hat, z. B. seine Wissenschaft, seine Tugend etc. offenbar macht; und das geschieht ohne Nachteil der Wahrheit, denn wer das Größere hat, kann mit Sicherheit und Wahrheit das Mindere von sich aussagen; danach sagt man, diese Tugend neige dahin, weniger zu sagen. „Es scheint dies,“ meint Aristoteles, „klüger zu sein, weil, wenn man zu viel sagt, dies eine gewisse Last mit sich bringt. Denn Menschen, die von sich mehr behaupten als sie sind, werden anderen lästig, weil sie stets vor ihnen etwas voraus haben wollen; Menschen, welche Geringeres von sich behaupten, als in Wirklichkeit ist, sind angenehmer und gefälliger, da sie sich in weiser Mäßigung mit den anderen auf die nämliche Stufe stellen.“ Deshalb spricht der Apostel (2. Kor. 12.): „Wenn ich mich rühmen wollte, so wäre ich nicht ein Thor, denn die Wahrheit würde ich sagen; ich schone aber, damit nicht jemand meint, ich sei mehr als man an mir sieht oder von mir hört.“ Es kann 2. jemand hinneigen, um weniger zu sagen, indem er leugnet, es wohne ihm das inne, was thatsächlich ihm innewohnt; und so ist es nicht der Tugend der Wahrheit eigen, zum Minderen im Sprechen hinzuneigen; denn dies hieße: Falsches sagen. Dieses selbst aber würde weniger der Wahrheit widerstreiten; nicht zwar in Anbetracht des der Wahrheit eigenen Wesenscharakters, sondern in Anbetracht der Klugheit, die man doch in jeder Tugend wahren muß. Denn mehr widerspricht es der Klugheit, insoweit es gefahrvoller ist und für andere lästiger, daß jemand sich rühmt, zu haben was er nicht hat, als wenn er erachtet oder sagt, er habe nicht das, was er hatc) Damit beantwortet.
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