Erster Artikel. Alle Verstellung ist Sünde.
a) Dem steht entgegen: I. Luk. ult. heißt es: „Der Herr stellte sich als ob Er weiter wollte;“ und Ambrosius schreibt über Abraham (l. de Abrah. 8.): „In zweideutiger Weise sprach Abraham zu den Knechten als er sagte: Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen und wenn wir werden angebetet haben, werden wir zu euch zurückkehren.“ Das Alles aber ist dasselbe wie Verstellung. Also ist letztere keine Sünde. II. Keine Sünde ist nützlich. Hieronymus aber bemerkt zu Galat. 2. (Cum venisset Petrus Antiocham): „Nützliche Verstellung und bei passender Gelegenheit zu gebrauchen! So auch tötete Jehu, der König Israels, die Baalpriester, indem er sich anstellte, als wollte er die Götzenbilder verehren.“ (4. Kön. 10.) Auch David verstellte sein Antlitz vor Achis, dem Koch Geths. (1. Kön. 21.) III. Das Gute ist im Gegensatze zum Schlechten. Wenn also es schlecht ist, sich einen guten Anschein zu geben; so wird es gut sein, sich einen schlechten Anschein zu geben. IV. Isai. 3. heißt es gegen einige: „Ihre Sünde haben sie wie Sodoma laut verkündet; und nicht haben sie dieselbe verborgen.“ Seine Sünde aber verbergen ist Verstellung. Also ist letztere nicht immer Sünde. Auf der anderen Seite erklärt Hieronymus zu Isai. 16. (In tribu omnis): „Soll man zwischen zwei schlechten Dingen wählen, so ist es so schwerwiegend offen zu sündigen, wie sich verstellen, als ob man ein Heiliger wäre.“ Also ist die Verstellung immer etwas Schlechtes und somit Sünde.
b) Ich antworte, die Tugend der Wahrheit erfordere, daß man sich nach außen hin so gebe wie man ist. Äußere Zeichen aber sind nicht nur die Worte, sondern auch die entsprechenden Thaten. Wie also zur Weisheit es im Gegensatze steht, daß jemand durch seine Worte Anderes ausdrücke als er innerlich meint, daß er sonach lüge; — so steht es mit der Wahrheit im Gegensatze, daß jemand anders thue als er es im Innern hat, d. h. sich verstelle. Also ist die Verstellung eigentlich eine Lüge Thun und somit Sünde.
c) I. „Wann wir in der Weise uns stellen, daß damit nichts Anderes bezeichnet werde, dann ist dies Lüge; geschieht es aber in der Weise, daß unser Verstellen etwas Anderes, Wahres anzeige, dann ist dies nicht Lüge, sondern eine Figur der Wahrheit;“ sagt Augustin (Qq. Evgl. 5.). Er führt als Beifpiel an die Figuren in der Rede, die Gleichnisse etc., die wir gebrauchen nicht um damit zu behaupten, es sei so, sondern als Figur einer anderen Wahrheit, die wir behaupten wollen. So stellte sich der Heiland, als „wolle er weiter gehen;“ denn er machte eine solche Bewegung wie jemand, der weiter gehen will, um damit anzudeuten, nach Gregor (23. in Evgl.) „daß Er vom Glauben derselben weit entfernt war;“ oder wie Augustin sagt /2. de Qq. EvgI. ult.), „da Er weiter gehen wollte durch die Himmelfahrt, wurde er nur durch die Gastfreundschaft gewissermaßen auf Erden zurückgehalten.“ Auch Abraham hat in figürlicher Weise gesprochen: „Er prophezeite, was er nicht kannte; denn er für sich allein meinte zurückzukehren nach der Opferung seines Sohnes. Der Herr aber sprach durch seinen Mund darüber, was Er vorhatte.“ Da war also keine Verstellung. II. Hieronymus nimmt den Ausdruck „Verstellung“ im weiteren Sinne für „sich anstellen“. Die Veränderung im Antlitze Davids ist figürlich zu verstehen, wie Augustin erklärt zum Titel des Ps. 33. Die Verstellung Jehus braucht nicht entschuldigt zu werden; denn er war böse und verharrte im Götzendienste Jeroboams. Er wird jedoch gelobt und erhält zeitlichen Lohn von Gott; nicht für die Verstellung, sondern für den Eifer, mit dem er den Kult Baals zerstörte. III. Manche sagen, niemand könne sich den Anschein eines Ruchlosen oder Bösen geben. Denn thut er gute Werke, so dient das nicht dazu, ihm den Anschein eines Gottlosen zu geben; thut er schlechte, so ist er schlecht. Doch dies wird nicht mit Recht gesagt. Denn es kann jemand sich den Anschein geben als sei er schlecht durch Werke, die an sich nicht schlecht sind, aber schlecht scheinen nach außen hin. Und in diesem Falle ist die Verstellung selber wohl schlecht, sei es weil sie eine Lüge ist oder auf Grund des Ärgernisses; aber die zu Grunde liegenden Werke machen es nicht, daß der betreffende schlecht wird. Und weil die Verstellung eben selber Sünde ist und nicht erst auf Grund dessen, worauf sie sich bezieht, sei dies etwas Gutes oder etwas Schlechtes, so ist dies Sünde. IV. Wie jemand mit Worten lügt, wann er bezeichnet, was nicht ist; aber nicht wann er verschweigt, was ist — denn dies ist bisweilen erlaubt; — so verhält es sich auch mit der Verstellung. Ohne Verstellung also kann jemand die Sünde, die in ihm ist, verbergen. Dem angemessen sagt Hie ronymus l. c.: „Das zweite Heilmittel nach dem Schiffbruche ist: die Sünde verbergen;“ damit nämlich den anderen kein Ärgernis gegeben werde.
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