Dritter Artikel. Die Heuchelei steht im Gegensatze zur Tugend der Wahrheit.
a) Dem steht entgegen: I. In der Verstellung finden wir das Zeichen und das Bezeichnete.Mit Rücksicht auf Beides aber scheint sie keiner eigenen besonderen Tugend entgegenzustehen. Denn der Heuchler erheuchelt jede Tugend und zwar heuchelt er kraft beliebiger Tugendwerke, wie durch Fasten, Gebet, Almosen. (Matth. 6.) Also steht die Heuchelei in keinem besonderen Gegensatze zur Tugend der Wahrheit. II. Jegliche Verstellung scheint von einer gewissen List auszugehen, so daß sie auch der Einfalt gegenübersteht. Die List aber ist im Gegensatze zur Klugheit. III. Die Gattungen der moralischen Handlungen hängen vom Zwecke ab. Der Zweck des Heuchlers aber ist Geldgewinn oder eitle Ehre, so daß zu Job 27. Gregor (18. moral. 7.) sagt: „Der Heuchler oder Versteller ist ein vom Geize getriebener Räuber, der da auf Grund von schlechten Handlungen verlangt als Heiliger verehrt zu werden und damit das Lob von Tugenden raubt, die nicht er, sondern andere üben.“ Also besteht da kein Gegensatz zur Wahrheit. Auf der anderen Seite ist die Heuchelei oder Verstellung eine Lüge; also der Wahrheit entgegengesetzt.
b) Ich antworte, „der Gegensatz sei eine Gegenüberstellung mit Rücksicht auf die Form,“ von der nämlich das betreffende Ding sein Gattungswesen hat. (10 Metaph.) Da nun die Heuchelei ihrer Wesensform nach eine Verstellung ist, deren eigensten Gegenstand es bildet, eine Person vorzustellen, die man nicht ist; so ist sie direkt entgegengesetzt der Wahrheit, welche ihrer Wesensform nach sich so nach außen hin giebt wie sie ist. Ein indirekter Gegensatz aber kann erwogen werden gemäß beliebigen Äußerlichkeiten; wie z. B. gemäß dem entfernten Zwecke oder gemäß einem Wertzeuge als Mittel, vermöge dessen der Akt sich vollzieht, oder gemäß Ähnlichem.
c) I. Der Heuchler nimmt eine Tugend als Zweck; nicht um sie wirklich zu haben, sondern um zu scheinen, als ob er sie hätte. Er steht also nicht im Gegensatze zu dieser Tugend, sondern zur Wahrheit; insoweit er die Menschen täuschen will mit Bezug auf die betreffende Tugend. Die Werke dieser Tugend aber thut er nicht, als ob er sie direkt als Zweck sich vornähme; sondern sie dienen ihm als Werkzeug, nämlich als Anzeichen der Tugend. II. Der Klugheit steht gegenüber direkt die Schlauheit, welche scheinbare, in der Wirklichkeit aber nicht bestehende Mittel und Wege erfindet, um einen Zweck zu erreichen. Die Ausführung nun des schlau Erdachten vollzieht sich durch List, soweit es auf Worte; durch Trug, insoweit es auf Thaten ankommt. Wie also sich die Schlauheit zur Klugheit verhält, so die List und der Trug zur Einfalt. List und Trug aber hat Beziehung in erster Linie zum Täuschen und dem untergeordnet zum Schaden. Also entspricht es direkt der Einfalt, nicht zu täuschen; und danach ist sie die nämliche Tugend wie die Tugend der Wahrheit. Der Unterschied besteht nur in der Auffassung, so daß Wahrheit ist die Übereinstimmung des Zeichensmit dem Bezeichneten, Einfalt das Streben nach einem einheitlichen Zwecke; nicht daß man äußerlich nach etwas zu streben vorgebe und innerlich etwas Anderes erstrebe. III. Geldgewinn und eitler Ruhm ist der entfernte Zweck des Heuchlers wie auch des Lügners. Von da her kommt also nicht die Wesensgattung. Diese wird vom nächsten Zwecke her bestimmt, nämlich von der Absicht als ein anderer zu erscheinen als man ist. Bisweilen also verstellt sich oder heuchelt jemand in keiner anderen Absicht wie damit er anders erscheine als er ist (4 Ethic. 7.); wie das oben bei der Lüge gesagt worden.
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