Sechster Artikel. Die Freigebigkeit ist an sich nicht die größte Tugend.
a) Die Freigebigkeit ist die größte Tugend. Denn: I. Durch die Tugend wird der Mensch der göttlichen Güte ähnlich. Dies geschieht aber am allermeisten durch die Freigebigkeit; denn „Gott giebt allen überreichlich und hält nicht nach.“ Jakob. 1. II. „Im Bereiche dessen, was nicht dem körperlichen Umfange nach groß ist, ist es dasselbe: besser sein wie größer sein,“ sagt Augustin. (6.de Trin. 8.) Das Wesen des Guten, das ja darin besteht, daß es sich selber ausbreitet, erscheint aber am meisten in der Freigebigkeit gewahrt; weshalb auch Ambrosius sagt (l. c.): „Die Gerechtigkeit hält am nüchternen Prüfen fest, die Freigebigkeit an der Güte.“ Also ist die Freigebigkeit die größte Tugen. III. Die Menschen werden auf Grund ihrer Tugend geliebt und geehrt. „Die Freigebigkeit oder Weitherzigkeit aber macht am meisten ehrenwert,“ sagt Boëtius (2. de Consol. prosa 5.); und Aristoteles (4 Ethic. l.)schreibt: „Unter den tugendhaften werden am meisten die freigebigen geliebt.“ Also ist die Freigebigkeit unter den Tugenden die größte. Auf der anderen Seite sagt Ambrosius (I. c.): „Die Gerechtigkeit ist mehr hervorragend wie die Freigebigkeit; die Freigebigkeit ist angenehmer.“ Aristoteles (1 Rhet. 9.) ebenso: „Die starken und gerechten werden am meisten geehrt und nach diesen die freigebigen.“
b) Ich antworte, je höher das Gute steht, worauf eine Tugend sich richtet, desto besser sei die Tugend. An und für sich nun, ihrem Wesen nach, strebt die Freigebigkeit danach, die eigene Neigung rücksichtlich des Besitzes und des Gebrauches von Geld und Gut zu regeln; und danach steht der Freigebigkeit voran die Mäßigkeit, welche die auf den eigenen Körper bezüglichen Begierden und Ergötzlichkeiten regelt; — noch mehr dann stehen voran die Stärke und Gerechtigkeit, welche als Zweck, worauf sie Alles beziehen, das Gemeinbeste verfolgen, die eine zur Zeit des Friedens, die andere zur Zeit des Krieges; — allen voran stehen schließlich die Tugenden, welche zum göttlichen Gute hinbeziehen. Denn das göttliche Gut ragt über alles menschliche Gut hervor; unter den menschlichen Gütern aber steht das Gemeinbeste höher wie das Wohl einer Privatperson; und im Bereiche des letzteren steht der Körper und sein Wohl höher wie das von außen kommende Gute. Sodann aber kann man berücksichtigen alles jenes Gute, zu dem die Freigebigkeit nicht ihrem Wesen nach zwar Beziehung hat; was wohl aber aus ihr folgt. Und danach bezieht sich auf alle erwähnten Güter die Freigebigkeit. Denn daraus daß der Mensch nicht am Gelde festhält, folgt, daß er es benutzt zum eigenen Nutzen, zum Besten anderer und zur Ehre Gottes. Und danach, weil die Freigebigkeit zu Vielem nützlich ist, hat sie einen gewissen Vorrang vor den anderen Tugenden. Weil aber Jegliches beurteilt wird nach seinem Wesen und nicht nach dem, was aus ihm folgt, so muß man schlechthin sagen, die Freigebigkeit sei nicht die größte Tugend.
c) I. Das Geben von seiten Gottes kommt daher weil er die Menschen liebt, denen Er giebt; nicht aus irgend einer Hinneigung mit Bezug auf das, was Er giebt. Also gehört dies mehr zur Liebe, wie zur Freigebigkeit. II. Jede Tugend nimmt am Charakter des Guten teil mit Rücksicht darauf, daß von derselben die ihr eigene Thätigkeit ausgeht. Die Thätigkeiten mancher anderer Tugenden aber sind besser wie die, deren Gegenstand nur das Geld ist; also wie die der Freigebigkeit. III. Man liebt die freigebigen auf Grund des eigenen Nutzens nur; denn sie bieten mehr Nutzen in den außen befindlichen Gütern, nach denen der Mensch sich so sehr sehnt. Und wegen derselben Ursache rühmt man sie und nennt ihre Namen.
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