Sechster Artikel. Die Bedürfnisse des gegenwärtigen Lebens bilden die Regel für die Mäßigkeit.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Die Mäßigkeit als Tugend steht höher wie die körperlichen Bedürfnisse des Lebens. Das Höhere aber wird nicht geregelt durch das Niedrigere. II. Wer die Regel überschreitet, sündigt. Immer also würde jemand sündigen, sobald er ein wenig mehr Speise zu sich nehme als die Not erfordert. Diese aber ist mit sehr Wenigem zufrieden. III. Wer auf die Regel achtet, sündigt nicht. Wegen körperlicher Bedürfnisse also z. B. wegen der Gesundheit wäre jedes Ergötzen erlaubt. Also ist das keine Regel für die Mäßigkeit: die körperliche Not. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de morib. Eccl. 21.): „Der mäßige hat im Gebrauche der Dinge dieses Lebens seine Regel, welche von beiden Testamenten aufgestellt und bekräftigt wird; er soll nämlich von den Dingen dieser Welt nichts lieben, nichts an und für sich als begehrenswert betrachten. Mit Bescheidenheit nehme er davon wie viel das Amt und die Lebensnotdurft verlangt; nicht aus Liebe, sondern weil es so sein muß.“
b) Ich antworte, die Tugend richte sich nach der Vernunft. Die Vernunft aber hat als Richtschnur den Zweck; der Zweck nun als das an und für sich Gute regelt alles Jenes, was zum Zwecke dient. Alles Ergötzliche aber in dieser Welt, was dem menschlichen Gebrauche dient, hat zum Zwecke irgend eine menschliche Notdurft. Soweit also die Bedürfnisse des Lebens es erfordern, gebraucht die Mäßigkeit die Dinge dieser Welt.
c) I. Die Lebensnotdurft ist als Zweck Regel der Vernunft. Bisweilen aber ist ein anderer der Zweck des wirkenden und ein anderer der Zweck des Werkes an sich betrachtet; wie der Baumeister zum Zwecke haben kann den Geldgewinn, der Zweck des Bauens aber ist das Haus. So ist der Zweck der Tugend der Mäßigkeit die Seligkeit; der Zweck aber der Sache, welche gebraucht wird, ist die Befriedigung von des Lebens Notdurft. II. Einmal ist etwas für das menschliche Leben in der Weise notwendig, daß dieses letztere ohne Solches nicht schlechthin bestehen kann, wie also Speise und Trank; — dann ist etwas notwendig in der Weise, daß das Leben ohne dieses kein zukömmliches ist. Die Mäßigkeit nun beachtet beide Arten von Notwendigkeiten: „Der mäßige begehrt Ergötzliches wegen der Gesundheit und wegen der guten Gewohnheit;“ heißt es 3 Ethic. 11.p>Anderes nun, was nicht notwendig ist, kann sich in doppelter Weise verhalten. Manches nämlich hindert die Gesundheit oder den guten Brauch; — und das verschmäht der mäßige durchaus, es wäre das Gegenteil eine Sünde gegen die Mäßigkeit. Anderes aber ist nicht hinderlich; und dessen bedient er sich in maßvoller Weise, wie es sich nach Ort, Zeit und den mit ihm zusammenlebenden Personen gebührt (l. c.). III. Die Notwendigkeit im Bereiche dessen, was zukömmlich ist, wird erwogen gemäß dem Befinden des Körpers, gemäß den Beziehungen nach außen; also gemäß dem Amte und Reichtum und zumal gemäß der Ehrbarkeit und der Wohlanständigkeit (I. c.). Auch Augustin sagt (de morib. Eccl. 21.): „Der mäßige blickt nicht einzig und allein auf des Lebens Notdurft, sondern auch.auf die Erfordernisse seines Amtes und auf sonstige Aufgaben.“
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