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Œuvres Thomas d'Aquin (1225-1274) Summe der Theologie
Secunda Pars Secundae Partis
Quaestio 152

Dritter Artikel. Die Jungfräulichkeit ist eme Tugend.

a) Dem steht entgegen: I. Keine Tugend wohnt von Natur uns inne. Dies ist aber der Fall mit der Jungfräulichkeit; denn jeder ist jungfräulich, wenn er geboren wird. II. Wer eine Tugend hat, der hat alle. Viele aber haben andere Tugenden und nicht die Jungfräulichkeit; sonst, da ohne Tugend niemand in den Himmel kommen kann, könnten ja nur solche, die jungfräulich leben, in den Himmel kommen. III. Jede Tugend wird durch die Buße wiederhergestellt; nicht aber die Jungfräulichkeit, wie Hieronymus sagt (ep. 22.): „Das Übrige kann Gott; aber eine Jungfrau kann er, nachdem sie verletzt worden, nicht wieder zur Jungfrau machen.“ Also ist die Jungfräulichkeit keine Tugend. IV. Man verliert keine Tugend, ohne zu sündigen. Die Jungfräulichkeit aber verliert man durch die Ehe ohne Sünde. V. Die Jungfräulichkeit steht als Stand gleichberechtigt da mit der Witwenschaft und dem Ehestande. Auf der anderen Seite (1. de virginit.) sagt Ambrosius: „Die Liebe zur Unverderbtheit ladet ein, daß wir etwas über die Jungfräulichkeit sagen, damit es nicht scheine, wir wollten sie nur wie im Vorübergehen erwähnen; da sie doch eine hohe Tugend ist.“

b) Ich antworte, bei der Jungfräulichkeit sei das wesentlich bestimmende Moment der Vorsatz im Willen. Dieser Vorsatz wird ein lobwürdiger durch den Zweck, mit dem er verbunden erscheint; insofern die Jungfräulichkeit nämlich eingehalten wird, um sich göttlichen Dingen hinzugeben. Das bestimmbare materiale Moment aber bei der Jungfräulichkeit ist die Unversehrtheit des Fleisches, ohne daß man geschlechtliches Ergötzen erfahren hat. Nun findet sich immer da, wo ein specieller Charakter des Guten zusammen erscheint mit etwas in besonderer Weise Hervorragendem, auch eine specielle Tugend; wie z. B. wir bei der Prachtliebe dies gesehen haben, deren Gegenstand große Geldaufwendungen bilden, und die deshalb eine von der Freigebigkeit verschiedene Tugend ist, welche sich nur gemeinhin auf gewöhnliche Geldausgaben erstreckt. Sich frei halten aber von allen geschlechtlichen Ergötzlichkeiten, besitzt den Charakter eines speciellen, hervorragenden Gutes im Vergleiche dazu, daß man sich nur des ungeregelten Ergötzens im Bereiche des Geschlechtlichen enthält. Also ist die Jungfräulichkeit eine specielle, eigens für sich bestehende Tugend, welche sich zur Keuschheit verhält wie die Prachtliebe zur Freigebigkeit.

c) I. Das materiale Moment bei der Jungfräulichkeit haben die Menschen von ihrer Geburt an, nämlich die Unversehrtheit des Fleisches mit Rücksicht auf das geschlechtliche Ergötzen; nicht aber das formal bestimmende Moment, nämlich den Vorsatz, diese Unversehrtheit um Gottes willen sich zu bewahren. In diesem letzteren aber liegt der Wesenscharakter der Tugend, so daß Augustin schreibt (de virginit. 11.): „Nicht dies loben wir an den Jungfrauen, daß sie Jungfrauen sind; sondern daß sie Gott geweiht in heiliger Enthaltsamkeit Jungfrauen sind.“ II. Die Verbindung der Tugenden untereinander wird gemäß der heiligen Liebe als dem maßgebenden Momente berücksichtigt oder nach der Klugheit; nicht aber nach dem materiellen, äußeren Gegenstande. So hat der arme z. B. nicht den Gegenstand der Prachtliebe, während er den der Armut besitzt. Und in dieser Weise kann jemandem die Jungfräulichkeit fehlen, während er die anderen Tugenden besitzt; insoweit nämlich ihm der materielle Gegenstand der Jungfräulichkeit, die Unversehrtheit des Fleisches, mangelt, während er den formal maßgebenden Grund der Jungfräulichkeit in sich hat, d. h. den Vorsatz, die besagte Unversehrtheit zu bewahren, wenn sich das für ihn gebührte. So kann der arme in seinem Geiste ganz gut den Vorsatz haben, große Geldaufwendungen zu machen, wenn sich das für ihn gebührte; und ähnlich wer im Glücke ist, kann in sich den Vorsatz, haben, Trübsale mit Geduld zu ertragen, wenn sie kommen sollten. Ohne solchen Vorsatz freilich kann niemand wirklich tugendhaft sein. III. Die Tugend kann mit Rücksicht auf den wesentlich bestimmenden, formalen Teil durch die Buße wiederhergestellt werden; nicht aber mit Rücksicht auf den materialen Teil, den Gegenstand nämlich, mit dem sie sich beschäftigt. Wenn z. B. ein prachtliebender seinen Reichtum völlig aufgewendet hat, so wird der Reichtum durch die Buße nicht wieder hergestellt. So erlangt also jener, der die Jungfräulichkeit verloren hat, durch die Buße nicht das äußere Merkmal der Jungfräulichkeit, deren Gegenstand, zurück; wohl aber den Vorsatz, die Jungfräulichkeit zu bewahren. Ein Wunder könnte wohl den äußeren Bestand des betreffenden Merkmals, die Unversehrtheit des darauf bezüglichen Gliedes, wiederherstellen. Aber daß jemand, der die Wollust durch die That erfahren hat, wieder so werde, als ob er sie nicht erfahren hätte; das ist nicht möglich. Denn daß Jenes, was geschehen ist, nicht geschehen sei, dies kann Gott nicht bewirken. (I. Kap. 25, Art. 4.) IV. Die Jungfräulichkeit als Tugend schließt den mit einem Gelübde gefestigten Vorsatz ein, jungfräulich immer zu bleiben; wie oben Augustin sagte, „durch die Jungfräulichkeit werde die Unversehrtheit des Fleisches dem Schöpfer gelobt, geweiht, gewahrt.“ Die Jungfräulichkeit also, insoweit sie Tugend ist, wird nur durch Sünde verloren. V. Die eheliche Keuschheit hat nur dieses Lobenswerte, daß sie von unerlaubten geschlechtlichen Ergützungen absteht; sie besitzt also keinen Vorrang vor der gewöhnlichen Keuschheit. Die Witwenschaft fügt wohl etwas zu der gewöhnlichen Keuschheit hinzu; sie erreicht aber nicht das, was in diesem Bereiche vollkommen ist, nämlich das allseitige Fernbleiben von geschlechtlichem Vergnügen; dazu kommt nur die Jungfräulichkeit. Also nur allein die Jungfräulichkeit ist eine eigene Tugend; die höher stehl wie die Keuschheit, in der Weise wie die Prachtliebe vor der Freigebigkeil hervorragt.

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