Zweiter Artikel. Sowohl die Milde ist eine Tugend als auch die Sanftmut.
a) Keine von beiden ist eine Tugend. Denn: I. Die Milde und Sanftmut stehen im Gegensatze zur Strenge. Die Strenge aber ist eine Tugend. II. Das Mehr und Minder verdirbt die Tugenden. Sowohl die Milde wie die Sanftmut aber bestehen in einem Minder; denn sie mindern die Strafe, resp. den Zorn. III. Die Sanftmut steht Gal. 5. unter den Früchten, und Matth. 5. unter den Seligkeiten. Also sind sie keine Tugenden. Auf der anderen Seite sagt Seneca (2. de clem. 5.): „Milde und Sanftmut sollen alle guten Menschen zeigen.“ Die Tugend aber „macht den Menschen gut.“
b) Ich antworte, die moralische Tugend wolle das Begehren unterthan machen der Vernunft. (1 Ethic. ult.) Die Milde aber sowohl richtet sich im Mindern der Strafen nach der Vernunft (Seneca l. c.), wie auch die Sanftmut im Mäßigen des Zornes. (4 Ethic. 5.) Also sind beide Zustände Tugenden.
c) I. Die Sanftmut zuvörderst steht in gar keinem direkten Gegensatze zur Strenge; denn die Sanftmut beschäftigt sich mit dem Zorne, während die Strenge das Verhängen von Strafen zum Gegenstande hat. Zur Milde aber, welcher die Strenge scheinbar entgegengesetzt ist, steht sie auch thatsächlich in keinem Gegensatze; denn beide Tugenden richten sich nach der Richtschnur der Vernunft. Die Strenge nämlich ist unbeugsam in der Verhängung von Strafen, sobald dies die rechte Vernunft erfordert; die Milde aber mindert die Strafen, ebenfalls gemäß der Vernunft, wann und wie es sich gebührt. II. Nach Aristoteles ist (4 Ethic. 3.) der Zustand, welcher im Bereiche des Zornes die rechte Mitte einhält, unbenannt. Deshalb wird die entsprechende Tugend benannt von der Minderung des Zornes her, welche man mit dem Namen „Sanftmut“ bezeichnet. Und dies hat seinen Grund darin, daß es dem Menschen natürlicher ist, nach Rache zu streben für die erlittenen Beleidigungen, die ja dem Menschen niemals zu klein vorkommen (Sallust. conjur. Catil.), und daß somit die Tugend hier näher steht dem Vermindern wie dem Vermehren; denn es kommt darauf an, die schon vorhandene natürliche Neigung nach dem Mehr hier zurückzuhalten. Die Milde aber vermindert die Strafen; nicht zwar mit Rücksicht auf die Richtschnur und auf das Maß der rechten, geraden Vernunft; diese Richtschnur bleibt; — sondern vielmehr mit Rücksicht auf das für alle geltende, das gemeine Recht, wie es von der öffentlichen Gerechtigkeit bestimmt wird. Denn die Milde mindert die Strafen auf Grund von besonderen Einzelheiten, gemäß denen sie urteilt, der Mensch sei nicht weiter zu bestrafen. Deshalb sagt Seneca (I. c.): „Die Milde leistet dies zuerst, daß jener, der da nachläßt, damit ausspricht, die betreffenden hätten nichts Anderes dafür zu leiden; der Nachlaß aber der geschuldeten Strafe ist Gnade.“ Die Milde steht also im nämlichen Verhältnisse zur Strenge wie die Billigkeit zur öffentlichen Gerechtigkeit, deren Teil die Strenge mit Rücksicht auf das Verhängen von gesetzlichen Strafen ist; — wie die Milde von der Billigkeit sich unterscheidet, wird gleich gesagt werden. III. Die Seligkeiten sind Tugendakte, die Früchte sind Freuden am Tugendakte. Und so kann ganz wohl die Sanftmut Tugend sein und zugleich Seligkeit und Frucht.
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