Erster Artikel. Die seligste Jungfrau und Gottesmutter ward geheiligt vor der Geburt.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. 1. Kor. 15. heißt es: „Nicht vorher was geistig ist, sondern was sinnlich ist; und dann, was geistig ist.“ Die heiligmachende Gnade abermacht den Menschen zu einem geistigen Menschen, zu einem Kinde Gottes, nach Joh. 1.: „Aus Gott sind sie geboren;“ die Geburt giebt dem Menschen das sinnliche Leben. Also ward die heilige Jungfrau nicht geheiligt vor der Geburt. II. Augustin sagt (ep. ad Dardanum 287.): „Nur die wiedergeborenen werden geheiligt und zum Tempel Gottes.“ Niemand aber kann wiedergeboren werden, ehe er geboren ist. Also ward Maria nicht geheiligt vor der Geburt. III. Wer geheiligt ist durch die Gnade, ist rein von der Erb- und von der persönlichen Sünde. War also vor der Geburt die Mutter Gottes geheiligt, so war sie frei von der Erbsünde. Also hätte sie da, wenn sie gestorben wäre, in das Himmelreich eintreten können. Das konnte aber nicht geschehen vor dem Leiden Christi, nach Hebr. 10.: „Wir haben Vertrauen, in das Heilige einzutreten auf Grund seines Blutes.“ Also war die seligste Jungfrau nicht geheiligt vor der Geburt. IV. Vor der Geburt war die seligste Jungfrau noch in der Thätigkeit des Ursprunges; sie hatte kein selbständiges Leben. Wer aber noch in der Thätigkeit einer persönlichen Sünde ist, wer eine aktuelle Sünde mitthut, kann während dieses Aktes nicht von der Sünde befreit werden. Also konnte auch Maria, während sie noch im Akte oder in der Thätigkeit des Ursprunges war, nicht von der Sünde des Ursprunges gereinigt werden. Auf der anderen Seite feiert die Kirche das Fest der Geburt Marias. Nur aber von heiligen feiert die Kirche Feste. Also war Maria heilig in ihrer Geburt.
b) Ich antworte, über die Heiligung Marias vor der Geburt spreche die heilige Schrift nicht, sowie auch nicht über ihre Geburt selber. Wie aber Augustin mit Vernunftgründen schließt (serm. de asc. c. 8, 4, 5.), daß der Leib Marias in den Himmel aufgenommen worden ist (was von der heiligen Schrift nicht erwähnt wird), so können wir auch vernünftigerweise schließen, sie sei vor der Geburt geheiligt worden. Denn mit Recht wird geglaubt, daß jene, welche „den Eingeborenen des Vaters gebar, der da voll war von Gnade und Wahrheit“, höhere Gnadenvorrechte empfangen hat wie alle übrigen bloßen Menschen. Deshalb wird Luk. 1, 28. gelesen: „Der Engel sprach zu ihr: Sei gegrüßt, voll der Gnade.“ Nun finden wir, daß auch manchen anderen heiligen dieses Gnadenvorrecht verliehen worden, vor der Geburt geheiligt zu werden; wie dem Jeremias gesagt wurde (Jer. 1.): „Bevor du geboren wurdest, habe ich dich geheiligt;“ und wie Johannes der Täufer „erfüllt wurde vom heiligen Geiste vom Mutterleibe an“ (Luk. 1, 15.). Also wird mit Recht geglaubt, Maria sei geheiligt worden vor der Geburt.
c) I. Die seligste Jungfrau ward nach dem Fleische empfangen und auf Grund dessen nach dem Geiste geheiligt. II. Augustin spricht nach dem gewöhnlichen Laufe der Dinge, wonach nur die zuerst geboren sind durch die Sakramente wiedergeboren werden. Gott aber hat seine Macht nicht an dieses Gesetz der Sakramente so gebunden, daß Er nicht jemandem seine Gnade geben könnte, ehe derselbe geboren wird. III. Die seligste Jungfrau wurde vor der Geburt von der Erbsünde gereinigt mit Rücksicht auf den persönlichen Flecken. Nicht aber ward sie gereinigt von jenem Verschuldeten, wodurch die ganze Natur gebunden war, daß nämlich niemand in das Paradies eintreten könne außer auf Grunddes Opfers Christi; wie das ja auch von den heiligen Patriarchen vor Christo gilt. IV. Die Erbsünde kommt vom Ursprünge, insoweit durch diesen die menschliche Natur mitgeteilt wird, auf welche vorzugsweise gerichtet ist die Erbsünde. Dies aber, die Mitteilung der menschlichen Natur, geschieht, wann das, was empfangen worden, beseelt wird. Nach der Beseelung also kann das Empfangene geheiligt werden. Denn es bleibt nachher im Leibe der Mutter, nicht um die menschliche Natur zu empfangen, sondern damit in etwa vollendet werde das, was bereits empfangen worden ist.
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