Sechster Artikel. Auf alle, welche der Gnade tellhaftig sind, erstreckt sich die unsichtbare Sendung.
a) Dagegen spricht: I. Die Väter des Alten Testamentes waren teilhaftig der Gnade. Aber zu ihnen gelangte keine unsichtbare Sendung; wie dies aus Joh. 7, 39 hervorgeht: „Noch nicht war der Geist gegeben; denn noch nicht war Jesus verherrlicht.“ L. II. Der Fortschritt in der Tugend vollzieht sich nur auf Grund der Gnade. Die unsichtbare Sendung aber scheint sich nicht nach dem Fortschritte in der Tugend zu richten, denn der letztere ist ein ununterbrochener; und so wäre also die Sendung eine ununterbrochene. LI. III. Christus und die Seligen haben in höchster Vollkommenheit die Gnade. Auf sie scheint sich aber die Sendung nicht zu erstrecken; denn jede Sendung richtet sich auf einen Punkt, der in etwa fern ist. Christus als Mensch aber sowohl wie auch die Seligen sind vollkommen vereint mit Gott und in keiner Weise Ihm fern. IV. Die Sakramente im Neuen Bunde enthalten die Gnade. Zu ihnen hin aber vollzieht sich keine unsichtbare Sendung. Also letztere erstreckt sich nicht auf alles, was der Gnade teilhaftig ist. Auf der anderen Seite steht, was Augustin (vgl. oben) sagt, die unsichtbare Sendung vollziehe sich wegen der Heiligung der Kreaturen. Jede Kreatur aber, die in der Gnade ist, wird geheiligt. Also auf alle derartige Kreaturen erstreckt sich die unsichtbare Sendung. LV.
b) Ich antworte, das „Gesendetsein“ schließe in seiner Natur es ein, daß jener, welcher gesendet wird, da beginnt zu sein, wo er vorher nicht war; wie dies in den geschöpflichen Dingen zutrifft; — oder daß er in einer neuen Art und Weise da beginne zu sein, wo er vorher schon war; wie ein solches Gesendetsein den göttlichen Personen entspricht. Also muß in jenem, zu dem hin die Sendung sich vollzieht, ein zweifaches Moment in Betracht gezogen werden: Die Innewohnung der Gnade — und eine gewisse Erneuerung im Sein durch die Gnade. Auf alle also erstreckt sich die unsichtbare Sendung, in welchen dieses zweifache Moment gefunden wird.
c) I. Die unsichtbare Sendung ist den Vätern geworden. Deshalb sagt Augustin (4. de Trin. 20.): „Insofern der Sohn unsichtbarenveise gesendet wird, beginnt Er in den Menschen zu sein oder mit den Menschen.“ Dies aber ist vorher geschehen in den Vätern und Propheten. Was also gesagt wird: „Noch nicht war der heilige Geist gegeben;“ das ist von jenem Verleihen zu verstehen, welches zugleich mit dem äußeren Zeichen am Pfingsttage stattfand. II. Wohl vollzieht sich die unsichtbare Sendung gemäß dem Fortschritte in der Tugend; weshalb Augustin (4. de Trin. l. c.) sagt: „Dann wird der Sohn gesendet, wenn Er von Jemandem erkannt und wahrgenommen wird; insofern Er erkannt und wahrgenommen werden kann nach dem Verständnisse entweder dessen, der zu Gott hin fortschreitet oder dessen, der mit seiner Seele vollkommen mit Gott vereinigt ist.“ Jedoch wird nach jenem Fortschritte in der Tugend oder nach jener Vermehrung der Gnade in vorzüglicher Weise eine unsichtbare Sendung angenommen, wonach jemand fortschreitet zu einem neuen Alte oder zu einem neuen Zustande der Gnade; wie wenn jemand die Gabe der Prophetie oder der Wunder erhält oder wenn er aus Liebeseifer sich dem Martyrium aussetzt oder ähnlich. LX. III. An die Seligen ist die unsichtbare Sendung geschehen im Beginne ihrer Seligkeit. Nachher aber vollzieht sich nach ihnen keine solche Sendung mehr auf Grund der Erhöhung in der Gnade; jedoch wohl mit Rücksicht auf einzelne Geheimnisse, die ihnen von neuem offenbart werden bis zum jüngsten Tage. Und diese Vermehrung geschieht gemäß der Ausdehnung der einmal bestehenden Gnade auf mehreres. An Christum aber geschah die unsichtbare Sendung im Beginne seiner Empfängnis; nicht aber nachher. Denn von diesem Beginne an war Er aller Weisheit und Gnade voll. IV. Die Gnade ist in den Sakramenten des Neuen Bundes wie ein Werkzeug; gleichwie die Form des Kunstwerkes in den Werkzeugen ist, mit denen der Künstler arbeitet. Eine Sendung wird aber nur gemeint mit Rücksicht auf den Abschluß; nicht mit Rücksicht auf ein Werkzeug. Die unsichtbare Sendung also erstreckt sich nicht auf die Sakramente, sondern auf jene, welche durch die Sakramente Gnade empfangen.
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