Zweiter Artikel. Gott enthält in sich alles, was die Dinge in ihrer Gesamtheit an Vollkommenheiten und Vollendung haben.
a) Es scheint unmöglich, daß in Gott jegliche Vollendung sei, die auch immer in den Dingen gefunden werden könne. Denn: I. Gott ist einfach; der Vorzüge aber in den Dingen sind viele und mannigfache. II. Was einander entgegengesetzt ist, kann nicht zugleich innerhalb ein und desselben Dinges sich vorfinden. Die Vorzüge aber, deren die Dinge sich erfreuen, sind einander entgegengesetzt. Das geht schon daraus in allgemein geltender Weise hervor, daß jegliches Ding vollendet erscheint, vermittelst der „Differenz“, durch welche sein Gattungsbegriff hergestellt wird, wie der Mensch z. B. durch die „Differenz“ vernünftig. Diese „Differenzen“ aber — und deshalb heißen sie gerade „Differenzen“, Unterschiede — durch welche die gemeinschaftliche „Art“ in Gattungen zerfällt, wie die Art: „sinnbegabt“ in die Gattungen: Tier und Mensch durch die „Differenzen“: unvernünftig und vernünftig; diese „Differenzen“ sind einander entgegengesetzt. Also können nicht die Vollkommenheiten aller Dinge in Gott sein; es wäre dies ebenso, wie wenn jemand Mensch und Tier zugleich wäre. III. Leben ist vollkommener wie Sein; und Wissen ist vollkommener wie Leben. Gottes Wesen aber ist sein Sein. Also hat Er nicht in Sich die Vollkommenheiten des Lebens und des Wissens. Auf der anderen Seite sagt Dionysius (de div. nom. cap. 5.): „Gott hat von vornherein und ohne weitere Voraussetzung in seiner einen Existenz alle Vollkommenheiten.“
b) Ich antworte, daß Gott alles, was an den Dingen vollkommen ist, in Sich enthält. Deshalb wird Er auch ganz ohne weiteren Zusatz und ohne jede Schranke vollkommen genannt. Denn Ihm fehlt kein Vorzug, der irgendwo sonst vorgefunden wird. Das wird in zweifacher Weise gezeigt. 1. Was auch immer an Vollkommenheit in der Wirkung sich vorfindet, das muß auch irgendwie in der wirkenden Ursache vorhanden sein; kann doch diese nicht das wirken, wozu sie nicht thatsächlich die Kraft hat. Es ist dies jedoch in der betreffenden Ursache entweder in der Weise enthalten, daß Wirkung und Ursache unter ein und dieselbe (univoce) Begriffsbestimmung fallen; wie z. B. der Mensch wieder einen Menschen erzeugt, welcher derselben Gattung angehört, also dasselbe Wesen hat, wie er, der Erzeuger; — oder in dieser anderen Weise ist es in der Ursache enthalten, daß wohl der Name der gleiche sein kann für Wirkung und Ursache, nicht aber der Gattungsbegriff, daß vielmehr die Ursache in wesentlich höherem Grade das enthält, was die Wirkung besitzt; wie z. B. die Substanz der Sonne alles das in wesentlich verschiedener, aber bei weitem höherer Weise in sich enthält, was auf Erden erzeugt wird durch den wirkenden Einfluß der Sonne. Denn es ist offenbar, daß die Wirkung, bevor sie existiert, irgendwie in der Ursache besteht. In der wirkenden Kraft der Ursache aber vorherbestehen, das besagt nicht, daß die Wirkung in dieser Kraft ein unvollkommeneres Sein hat, sondern vielmehr, daß sie dort mehr Vollendung besitzt, als wenn sie in sich selbst besteht. Nur das Vorherbestehen in der Materialursache, im passiven Möglichsein, um etwas zu werden (wie der „Zeus“ des Phidias z. B. im Marmor), nur ein solches Vorherbestehen ist unvollkommener als die Wirklichkeit; denn der Stoff als solcher ist von sich aus unvollendet. Die wirkende Ursache aber ist insoweit vollendet, aIs sie wirkt (wie z. B. der „Zeus“ in der Kunstidee des Phidias vollkommen bestand, ehe der Marmor das entsprechenbe Gepräge trug; und wie er da in mehr vollkommener Weise, nämlich ohne die lästigen Schranken von Zeit, Ort, von seiten des Marmors und der Werkzeuge, bestand, ehe er in Wirklichkeit das künstlerische Sein hatte). Gott aber ist die erste wirkende Ursache aller Dinge. Er muß also in weit höherem, wesentlich verschiedenem Grade die Volllommenheiten der Dinge in sich enthalten, vollkommener sein, als diese in sich selbst wirklich sind. Und diesen Grund berührt Dionysius mit den Worten (de div. nom. cap. 5.): „Gott ist nicht dieses; und jenes ist Er nicht. Vielmehr ist Er alles wie die Ursache von allem.“ 2. Dieselbe Wahrheit ergiebt sich daraus, daß Gott das Sein selber ist, welches nur für sich und auf sich selber steht. Daraus folgt, daß Gott alle Vollkommenheiten des Seins, alles was im Sein an Vollkommenheit sich vorfinden kann, in Sich trägt. Denn es ist offenbar, daß, wenn ein warmer Gegenstand nicht die ganze Vollendung der Wärme hat, sondern noch wärmer werden kann, dies daher kommt, daß demselben die Wärme nicht als eine allseitig vollendete mitgeteilt worden ist. Wäre jedoch die Wärme selber für sich bestehend und nur in sich allein den Grund des Warmseins besitzend, dann könnte ihr nichts fehlen von der Kraft der Wärme; sie wäre eben der Quell der Wärme und nicht etwas von einem anderen Sein Mitgeteiltes. Da aber Gott das Sein selber ist und dieses Sein allein für, in und auf sich steht, so kann Ihm nichts fehlen von der Vollendung und der Kraft des Seins. Die Vollkommenheiten aller Dinge aber sind am Ende nichts als die Vollendung des Seins; denn demgemäß ist ein Ding vollendet oder vollkommen, daß es irgendwie Sein hat. Also kann die Vollkommenheit keines Dinges in Gott fehlen. Und diesen Grund berührt Dionysius mit den Worten (de div. nom. c. 5.): „Gott ist nicht in gewisser Weise existierend; sondern ohne Voraussetzung und somit ohne Schranken, ohne jeglichen Zusatz und ohne irgend welche Bedingung hat Er von vornherein in seinem einfachen Sein selber immer nach der nämlichen Form des Seins alles was an Vollkommenheit gedacht werden kann, in Sich,“ und gleich darauf: „Er ist für alles was besteht das Wirklichsein.“
c) I. II. Auf den ersten und zweiten Einwurf antwortet Dionysius (de div. nom. c. 5.): „Gleichwie die Sonne die substantialen Vollkommenheiten der sichtbaren Dinge, ihre zahlreichen Eigenschaften, die so mannigfach untereinander verschieden sind, sie, die eine und sich immer gleiche und immer gleichförmig leuchtende, in sich selber gleichförmig von vornherein und ehe diese einzelnen Substanzen existieren in sich enthält; so müssen noch bei weitem mehr in der Ursache alles Seins gemäß ihrer natürlichen Einigung und Verbindung vorherbestehen die Vollkommenheiten aller Dinge.“ Was also voneinander unterschieden oder zueinander im Gegensatze ist in der eigenen geschöpflichen Wirklichkeit, das besteht von vornherein in Gött gemäß dessen reinstem und einfachstem Sein als Einheit und dies wirft durchaus keinen Schatten auf die Einfachheit Gottes. III. Der dritte Einwand erledigt sich ebenfalls, wenn rwogen wird, wie Dionysius dazu anleitet (I. c.), daß wohl das Sein an sich vollkommener ist als das Leben und das Leben vollkommener als die Weisheit oder das Wissen gemäß dem Unterschiede, den die Vernunft in den Begriffen macht. Jedoch ist das mit Leben Seiende vollkommener wie das ohne Leben Seiende; denn das Lebende ist auch zugleich seiend, und der Weise ist zugleich lebend und seiend. Das konkret Seiende also lebt wohl nicht immer und ist nicht ohne weiteres weise, da es nicht erfordert ist, daß wer am Sein teilnimmt, auch zugleich an allen Arten und Weisen des Seins und an allen seinen Vollkommenheiten Anteil hat. Gott aber schließt in Sich Leben und Weisheit ein, weil Ihm keine irgend welche Vollendung des Seins mangelt.
