Siebenter Artikel. Das Morgen- und Abendwissen der Engel fällt nicht in eine einige Kenntnis zusammen, soweit es die Erkenntnisform betrifft.
a) Es scheint jedoch in jedem Sinne das Morgen- und Abendwissen nur eine Kenntnis zu sein. Denn: 1. Gen. 1, 5. heißt es: Es ward Abend und es ward Morgen: ein Tag.“ Unter dem Tage wird aber von Augustin die Kenntnis der Engel verstanden.. Also ist Morgen- und Abendwissen ein und dieselbe Kenntnis. II. Ein einziges Vermögen kann nicht zugleich zwei Thätigkeiten hahen. Die Engel aber schauen stets thatsächlich das göttliche Wort und die Dinge in Ihm; wie Matth. 18, 10. gesagt wird: „Ihre Engel schauen immer das Antlitz meines Vaters ...“ Somit besteht immer thatsächlich das Morgenwissen. Ist also das Abendwissen eine andere Kenntnis, so könnte es niemals thatsächliche Bedeutung haben. III. Ist das Abendwissen eine andere Kenntnis wie das Morgenwissen, so steht es zu diesem in derselben Beziehung wie das Unvollkommene zum Vollkommenen. Paulus aber sagt (1. Kor. 13.): „Wenn das kommt, was vollkommen ist, dann wird leer, was nur zum Teil ist.“ Auf der anderen Seite sagt Augustin (4. sup. Gen. ad litt. c. 24.): „Es ist ein großer Unterschied zwischen der Kenntnis eines Dinges im Worte und der Kenntnis des nämlichen Dinges in seiner eigenen Natur; so daß jenes Wissen mit Recht dem Tage angehörig scheint, dieses dem Abende.“
b) Ich antworte, daß hier zuerst ein Mißverständnis beseitigt werden muß. Wenn gesagt wird, kraft des Abendwissens kannte der Engel die Dinge „in ihrer eigenen Natur“; so darf dies durchaus nicht dahin aufgefaßt werden, als ob der Engel diese Erkenntnis von den Dingen erhielte, insoweit diese „in ihrer eigenen Natur“ sind. Vielmehr hat dies „in ihrer eigenen Natur“ nur die Bedeutung des erkannten Gegenstandes und will sagen, der Engel kenne die Dinge, soweit sie eigenes einzelnes Sein haben. Und dieses Sein nun kennen die Engel durch ein zweifaches Mittel: 1. Durch die ihrer Natur eingeprägten Ideen; und 2. dadurch, daß sie die ersten und höchsten Seinsgründe der Dinge im „Worte“ schauen. Denn indem sie das göttliche Wort schauen, sehen die Engel nicht nur das Sein, welches die Dinge in diesem „Worte“ haben, sondern auch jenes Sein, welches ihnen in ihrem subjektiven Einzelbestande eigen ist; wie Gott dadurch, daß Er Sich sieht, auch das Sein schaut, das die Dinge in ihrer eigenen Natur haben. Wird also gesagt, jenes sei das Abendwissen, gemäß dem sie vermittelst der Anschauung des Wortes dasjenige Sein der Dinge sehen, was dieselben in ihrer eigenen Natur haben, so ist ein und dasselbe Wissen: das Morgen- und Abendwissen. Es ist dann nur unterschieden gemäß der Verschiedenheit der erkannten Gegenstände. Wird aber gesagt, jenes sei das Abendwissen, wonach die Engel vermittelst ihrer eingeborenen Ideen das den Dingen in ihrer Natur eigene Sein erkennen, so ist eine andere Kenntnis die des Abend- und eine andere die des Morgenwissens. Und so scheint Augustin es genommen zu haben; da er das erstere als unvollkommen, das zweite als vollkommen bezeichnet.
c) I. Wie die Sechszahl in den Tagen nach Augustin gemäß den sechs Grundarten der Dinge genommen wird, welche von den Engeln erkannt werden; so die Einheit im Tage gemäß der Einheit des erkannten Gegenstandes, der jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten, respektive von verschiedenen Erkenntnisformen erreicht wird. II. Es können ganz wohl zwei Thätigleiten einer einzigen Potenz zugleich zukommen, wenn die eine der beiden auf die andere bezogen werden kann; wie ich mit demselben Akte will den Zweck und was zum Zwecke dient. Das Abendwissen aber wird von den Engeln bezogen auf das selige Morgenwissen; wie Augustin 4. sup. Gen. ad litt. 22. et 24. auseinandersetzt. So erkennt ja auch unsere Vernunft zugleich die Principien und die aus denselben gezogenen Schlußfolgerungen, wenn die Wissenschaft letztere bereits vorgestellt hat III. Beim Eintreten des Vollkommenen wird dasjenige Unvollkommene leer, d. h. zwecklos, was dem Vollkommenen entgegengesetzt war; wie der Glaube z. B. wenn das Schauen kommt. Aber das Unvollkommene im Abendwissen steht dem Morgenwissen in keiner Weise entgegen. Denn daß etwas als in sich bestehend, in seiner eigenen Natur, gesehen wird, steht dem nicht entgegen, daß man es zugleich als in seiner Ursache gegründet schaut. Und wiederum kann etwas durch zweifache Vermittlung erkannt werden, von denen die eine vollkommener ist, die andere weniger vollkommen; sowie ich ein und dieselbe Wahrheit zugleich erkennen kann, insoweit sie nur von einem Wahrscheinlichkeitsgrunde sich ableitet und insoweit sie aus einem höheren Princip mit Sicherheit folgt. Und so kann der Engel ein und dasselbe Ding erkennen, insofern er eine eingeborene Idee hat und insofern er sie im ungeschaffenen Worte sieht.
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