Zweiundachtzigstes Kapitel. Über den Wllen. Überleitung.
„Denn in einzig dastehender Weise hast du die Hoffnung in mir gegründet.“ (Ps. 4.) Von einer anderen Seite her stellt jetzt der Engel der Schule die Verbindung der einzelnen Wirklichkeit mit der Allgemeinheit her; oder führt das Nichts des Beschränkten auf die Einheit der Fülle zurück. Alle einzelnen Dinge haben als solche etwas gemeinsam. Die Erkenntnis nun ist der Träger dieser Gemeinsamkeit und gelangt dadurch zum allgemeinen Princip alles Seins. Jede einzelne Wirklichkeit ist aber auch etwas Besonderes. Das Begehren wird der Träger dieses Besonderen und führt es durch die verschiedensten Stufen von dem Begehren der Natur an, das nur auf ein Einzelnes als solches, abgesehen von allem Grunde, geht, durch das sinnliche Begehren hindurch zum reinen Wollen, wo das Einzelne erstrebt und geliebt wird als Mittel zum allgemeinen Gesamtwohl. Die Teilung ist das Elend der modernen Wissenschaft. Dieselbe heftet ihren Blick so auf ein besonderes Vermögen oder auf einen besonderen Seinskreis, daß sie alle anderen aus den Augen verliert. Thomas hat, zumal in seiner Summa, immer das Ganze vor sich; jeder einzelne Seinskreis gewinnt da Licht von dem anderen und alle zusammen erglänzen im Lichte des dreieinigen Gottes. Das zeigt sich besonders in der Betrachtung des Begehrens und der sich daran schließenden Willensfreiheit. Es entstehen hier deshalb so viele Schwierigkeiten, weil man die Willensfreiheit losreißt von ihrem Fundamente: dem allgemeinen sinnlichen Begehrungsvermögen. Es ist dies durchaus gegen den Psalm: „In einzig dastehender Weise hast du mich in der Hoffnung gegründet.“ Das Einzelne, Besondere ist immer im Bereiche des Sinnlichen. Nun gerade da liegt die Wurzel und das Fundament unserer Hoffnung, soweit dies in uns niedergelegt ist, daß wir in besonderer, wie der Psalmist sagt in einzig dastehender Weise nach oben hin gerichtet sind. Jeder Mensch hat in sich, in seiner sinnlichen Natur, die Leichtigkeit oder passende Verfassung für einen besonderen Kreis von Sein, von Gütern. Und dies ist das Fundament, von dem aus er aufsteigen soll zur Hoffnung auf das Endwohl. Sieht er in dieser einzelnen, ihn von den anderen unterscheidenden Neigung die Wirkung Gottes und folgt er ihr kraft der einwirkenden Liebe Gottes, so kommt er zum endlichen Wohl all seiner Fähigkeiten, zum Endzwecke seiner ganzen Seele. Mißbraucht er diese Grundneigung in ihm gegen den Gott, der sie ihm gegeben, so fällt er von sich selber ab. In dieser einzelnen Neigung faßt sich zusammen alles Körperliche und Sinnliche im Menschen. Von ihr gilt deshalb auch im besonderen Sinne, was der Psalmist vom Körper überhaupt sagt: „Du, mein Freund und mein Führer; zusammen haben wir die süße Nahrung genossen; im Häuse Gottes sind wir in Übereinstimmung gewandelt.“ Diese Worte gelten, sobald dak „Einzelne“ in uns die von Gott gelegte Grundlage unserer Hoffnung immerdar und in jeder Handlung bleibt. Gebrauchen wir aber diesen Zug zu einem besonderen Kreis von Gütern hin schlecht; nehmen wir selben als Führer, insoweit er nicht von Gottes wirkender Kraft kommt, sondern insofern er aus dem Nichts ist, so wird er für uns Quelle des Fluches. Dann gilt von ihm und dem von ihm beherrschten Kreis beschränkter Güter: „Der Tod möge über sie kommen und mitten in ihrer Blüte mögen sie lebend hinabsteigen zur Hölle.“ Was ist denn das nun für eine Neigung, die im Sinnenleben ihren Sitz hat, welcher gemäß der Körper mit seinen verschiedenen Gliedern und Organen eingerichtet ist; auf welcher der Wille emporsteigt zum Gesamtwohl, wenn er in ihr ein Werk Gottes verehrt und sich auf Grund derselben Gottes Führung überläßt; von welcher er hinabsinkt zum schließlichen Verderben, wenn er nicht unter dem Gesichtspunkte des allgemeinen Wohles sie ansieht, sondern ihrer Beschränktheit zu Liebe das allgemeine Wohl des ganzen Menschen in seinem einzelnen Wirken verwirft? Es ist ein in die Irre führender Drang der modernen Wissenschaft, daß sie meint, wenn sie nur die allgemeinen Elemente kennt, aus denen ein einzelnes Ding zusammengesetzt ist, vermöchte sie auch dann ohne weiteres das Einzelne herzustellen. Der Arzt irrt sich, wenn er glaubt, er könne mit Sicherheit heilen, wenn er alle allgemeinen Gesetze der Zusammenstellung und der Wirksamkeit der körperlichen Organe weiß. Der Musiker ist noch lange kein Mozart, wenn er alle Harmonieregeln und die Eigenheiten aller Instrumente sich tief eingeprägt hat. Es liegt im Einzelnen als solchem, als Einzelnem, eine besondere Kraft, die keinesfalls das Ergebnis der Teile ist. Thomas nannte dies oben „das mit der Natur gegebene Begehren“. Daß man alle die Elemente miteinander im bestimmten Maße verbinde, welche draußen in der Natur den Wein bilden; man wird etwas herstellen, was wie Wein aussieht, für den Nichtkenner vielleicht wie Wein schmeckt; — aber die natürlichen Folgen des Weines für die Gesundheit, für die Erheiterung des Herzens, für die Zeitdauer der Bewahrung etc. wird man nie erreichen; die Substanz des Weines wird diesem Einzeldinge fehlen. Beim Künstler, mag er Arzt sein oder Bildhauer oder Musiker, liegt immer zu Grunde das Talent, welches an die betreffenden körperlichen Organe geheftet ist. Der „Blick“ zuvörderst muß dem Arzte in schwierigen Fällen helfen; und dann erst fragt er die Regeln, ob sie mit diesem „Blicke“ übereinstimmen und wird sich bewußt, inwieweit er das von der Natur ihm Gebotene vervollkommnen und gleichsam ausbauen muß. Dem praktischen Landmann sagt sein Gefühl, wie man sich ausdrückt, ohne vorher nachzudenken, viel mehr als dem Chemiker, der nur seine Studienhefte um Rat fragt. Der Knabe bleibt vor dem Gemälde des Meisters stehen und kann kein Auge davon verwenden. Warum? Er hat, in seine Natur hineingelegt, als Mitgift gewissermaßen für den Weg der Vollendung erhalten, die „einzelne besondere Beziehung“ zu dieser Art Kunstwerke. Und ist er groß geworden und hat er dieses einzelne Fundament aufgebaut, daß es nun mit allen Künsten, mit allen Wissenschaften verbunden ist und von allen Seiten her Beleuchtung und Stärkung erfährt; so ist es doch wieder diese Naturgabe in seinem sinnlichen Teile, welche durch alles Angeeignete hindurch sein Urteil in schwierigen Fällen leitet, daß er wahre Kunst von vornherein und oft genug, ohne sich kraft der Kunstregeln davon Rechenschaft geben zu können, von falscher unterscheide. Der Arzt ist kraft seines ärztlichen Talents gleichsam eins mit der Konstitution des Kranken. Sein ganzes Wesen, Verstand, Wille, Phantasie, die äußeren Sinne, dienen dieser Einheit, stützen sie und stellen sich ihr zur Verfügung. Kraft dieser Einheit, die im sinnlichen Teile wurzelt, trägt ihn sein Blick bis auf den tiefsten Grund der Krankheit und ist die unbewußte Richtschnur für die Anwendung der Kunstregeln. Ohne diese Einheit, ohne diesen Blick ist er kein Arzt; er wäre nur eine Maschine, welche dem Kranken die allgemeinen Kunstregeln übermittelte. Der Landmann ist eins in seiner Neigung mit der Beschaffenheit des Bodens und deshalb ist sein Urteil ein sicheres. Er ist eins wie der Stein eins ist mit der Tiefe; derselbe fällt sicher, sich selbst überlassen, hinab. Eins ist der Musiker von Natur mit der Harmonie der Töne; nicht eins, wie das Auge eins ist mit der Farbe, dem es gleichgültig ist, ob schwarz oder weiß da ist. Nein; er ist eins mit der einzelnen Melodie; darauf richtet sich sein sinnliches Grundbegehren, daß diese bestimmte Melodie in ganz bestimmter Weise vollendet sei. So wird der Mensch durch diese seine Grundneigung zu einzelnen sichtbaren Seinskreisen nach außen getragen. Es wird ihm damit die Aufgabe seines Lebens zugewiesen. Diesen bestimmten beschränkten Seinskreis soll er in Beziehung setzen zur Allgemeinheit des Ganzen. Er soll das freie Werkzeug sein in der Hand der ersten allgemeinen Ursache, daß alles Einzelne als Einzelnes nicht zerstreut und damit aufgelöst werde; sondern in Beziehung trete als Glied zum Ganzen, als Geschöpf zur wirkenden Kraft Gottes. Jedes Einzelne hat mit all seiner Verschiedenheit die Fähigkeit, dem Ganzen zu dienen; es kommt von Gott. Aber es hat nur dann seinen Wert als einzelne Wirklichkeit, wenn es immer wieder neues Leben erhält von jenem Sein, das es gebildet. Und es erhält ein solches Leben durch Vermittlung des menschlichen, von der Vernunft geleiteten Willens; dieser leitet es nach jenem Grunde, der als das Allgemeinste und zugleich als Einzelsein besteht. In den verschiedenen Menschen sind eben so viele verschiedene Beziehungen zum Einzelnen; und in allen diesen verschiedenen Menschen wird damit die einzelne Wirklichkeit, respektive das Begehren nach ihr Grundlage der Hoffnung für ewiges Heil. Was von Gott gekommen ist, das führt auch zu Gott. Von Gott getrennt wird die einzelne Wirklichkeit elend. In den sinnlichen Teil des Menschen von Gott niedergelegt wird sie das Fundament für den Aufbau der Vernunft, des Willens, sowie aller übrigen Fähigkeiten. So versteht es Thomas, wenn er so oft im Folgenden von nur einem Begehrungsvermögen spricht, oder unter dem Begehrungsvermögen bald die äußeren Sinne, bald die Phantasie, bald den Willen, ohne scharf zu unterscheiden, einbegreift. Denn dieses an dem sinnlichen Teile haftende Grundbegehrungsvermögen oder diese Grundneigung im Menschen durchdringt kraft der in ihr waltenden göttlichen Bestimmung alle die verschiedenen Arten von Begehrkräften und ist in ihnen allen die im Menschen selber gelegene subjektive Richtschnur und Einheit. In diesem Sinne nennt es der Psalmist „einzig dastehend“, den einen Menschen vom anderen unterscheidend und zugleich „die Grundlage der Hoffnung“ auf das schließliche, alles umfassende Wohl: „Denn in einziger Weise hast du in der Hoffnung mich gegründet.“
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