Dritter Artikel. Vom mehr Allgemeinen schreitet unsere Kenntnis fort zum minder Allgemeinen.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Was seiner Natur nach früher und der Erkenntnis zugänglicher ist, wird uns erst später bekannt und bleibt auch für uns immer minder bekannt; wie z. B. die Sonne ihrer Natur nach früher ist und heller als das Licht, uns aber zuerst letzteres bekannt wird und erst darauf die Sonne und immer noch minder bekannt als das Licht; oder wie auch Gott an sich am meisten der Natur nach erkennbar ist, für uns aber das Letzterkannte bleibt. Das Allgemeine ist nun an und für sich seiner Natur nach früher als das Besondere; denn „früher“ ist das, auf Grund dessen Anderes besteht, und was selber nicht den Grund seines Seins in diesem Anderen hat. Das Allgemeine also ist für uns später erkannt und minder; es geht somit die Kenntnis nicht vom Allgemeinen aus. II. Die zusammengesetzten Dinge sind früher für unsere Kenntnis wie die einfachen, sie zusammensetzenden Elemente. Das Allgemeine aber ist einfacher wie das mehr Besondere. Also erkennen wir es später. III. Aristoteles sagt (1 Physic. 5.): „Die Begriffsbestimmung selber oder das begrifflich Bestimmte ist unserer Kenntnis früher zugänglich wie dieTeile oder Elemente der Begriffsbestimmung.“ Die Elemente der Begriffsbestimmung aber sind allgemeiner wie das begrifflich Bestimmte; wie z. B. das „Sinnbegabte“ allgemeiner ist und Element im Begriffe „Mensch“. Also für uns ist das Allgemeinere im selben Grade später erkannt. IV. Durch die Wirkungen gelangen wir zur Erkenntnis der Ursachen. Die Ursachen aber sind als Principien des Seins allgemeiner wie die Wirkungen. Also schreiten wir in der Kenntnis immer zum mehr Allgemeinen hin fort und nicht umgekehrt vom mehr Allgemeinen zum minder Allgemeinen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1 Physic.): „Vom Allgemeinen aus gelangen wir zur Kenntnis des Besonderen.“
b) Ich antworte, daß wir bei der Betrachtung der Art und Weise unserer Kenntnis zwei Momente unterscheiden müssen: 1. Daß diese unsere Kenntnis in gewisser Weise von der Sinnenkenntnis anfängt und demgemäß, da der Sinn sich auf das Besondere und Einzelne richtet, die Kenntnis des Besonderen und Einzelnen nach dieser Seite hin früher für uns sein muß wie die des Allgemeinen; — 2. aber, daß unsere Vernunft vom Zustande des Vermögens ausgeht und so zum Thätigsein gelangt. Alles aber, was zuerst vermögend ist, um etwas thatsächlich zu werden, das gelangt zuerst zu einer unvollendeten Thatsächlichleit und vermittelst deren zur voll entsprechenden Thätigkeit; wie das Zimmer unter dem Einflusse des Feuers, nachdem es vorher nur vermögend war, warm zu werden, nun zuerst ein wenig warm wird und nur später vollendet warm. Nun ist aber das vollendete Thätigsein der Vernunft nichts Anderes wie das vollendete Wissen, vermittelst dessen in allen ihren Besonderheiten und bestimmten Unterschieden die Dinge erkannt werden. Unvollendet thatsächlich ist demnach das Wissen, wenn die Erkenntnisgegenstände in ihm nur in einer gewissen Unbestimmtheit, in dem nämlich erkannt werden, was ihnen unterschiedslos gemeinsam ist und nicht in dem, was einem jeden zum Unterschiede von den anderen eigen zukommt. Denn was in dieser Weise erkannt wird, das wird nach der einen Seite hin erkannt, insoweit es noch unbestimmt, also im Vermögen zu weiterer, mehr unterscheidender Bestimmung und Abgrenzung seines thatsächlichen Seins ist; und nach der anderen Seite hin wird es erkannt, inwiefern es bereits in etwa dem thatsächlichen Sein nach besteht. Das drückt Aristoteles (1 Physic.) mit den Worten aus: „Was wir zuerst als gewiß erkennen, das ist uns offenbar gemäß einer gewissen Unbestimmtheit und Ununterschiedenheit; erst später erkennen wir, indem wir die einzelnen Elemente und Principien unterscheiden.“ Es ist nun aber offenbar, daß, wenn jemand etwas erkennt, worin Mehreres enthalten ist, ohne zu erkennen, was jedem unter diesen mehreren zum Unterschiede von den anderen eigen ist, daß er dann nur unbestimmter Weise erkennt. So kann Gegenstand der Erkenntnls sein sowohl das Ganze, wie es in der allgemeinen Gattung oder „Art“ sich ausdrückt, worin die Teile nur dem Vermögen nach enthalten sind, wie „vernünftig“ und „nicht vernünftig“ als Gattungen dem Vermögen nach eingeschlossen sind in der allgemeinen „Art“: sinnbegabt (totum universale); — oder auch jenes Ganze kann im selben Sinne Gegenstand der Kenntnis sein, wo die Teile im thatsächlichen Sein das Ganze ausmachen, wie das Haus, dessen Teile dem thatsächlichen Bestande nach Thür, Fenster, Wände etc. sind (totum integrale). Denn ein jedes von diesen beiden Arten „Ganzen“ kann in einer gewissen unbestimmten Weise erkannt werden, ohne daß nämlich damit die einzelnen Teile in der betreffenden Kenntnis je in ihrer Verschiedenheit vom anderen eingeschlossen seien. Erkennen aber in bestimmter, eingehender Weise das, was im Ganzen der allgemeinen „Art“ enthalten ist, das will sagen Kenntnis haben von einem minder allgemeinen Gegenstande. So z. B. erkenne ich das „Sinnbegabte“ in unbestimmter Weise, wenn ich es bloß als „Sinnbegabtes“, nämlich als allgemeine „Art“ erkenne; ich erkenne aber das „Sinnbegabte“ in eingehend bestimmter Weise, wenn ich es erkenne, insoweit es „vernünftig“ und „unvernünftig“ ist; was dasselbe ist wie wenn ich es als einen Menschen oder einen Löwen kannte. Früher also begegnet es der Vernunft, daß sie das „Sinnbegabte“ im allgemeinen als Gemeinsames erkennt, wie daß sie es als einen „Menschen“, nämlich in der bestimmten Verschiedenheit der Gattungen kennt, die es einschließt. Derselbe Fall tritt immer dann ein, wenn wir das mehr Gemeinsame mit dem minder Gemeinsamen vergleichen. Und weil es sich mit dem Sinne ebenso verhält wie mit der Vernunft, daß er nämlich aus dem Zustande des Vermögens zur Thätigkeit übergeht, so sehen wir dieselbe Reihenfolge in der Kenntnis beim Sinne. Denn sowohl nach der Zeit als auch nach dem Orte hin erfassen und unterscheiden wir zuvörderst das mehr Gemeinsame. Sehen wir z. B. in der Ferne etwas, so urteilen wir zuerst, es sei ein Körper; darauf, es sei ein sinnbegabtes Wesen; dann, es sei ein Mensch; und endlich, es sei Sokrates oder Plato. Und ebenso geht es mit der Zeit. Denn das Kind unterscheidet zuerst den Menschen vom Nicht-Menschen und später erst den einen einzelnen Menschen von jenem; deshalb nennen „die Kinder“, wie Aristoteles bemerkt (1 Physic.), „im Beginne alle Männer Vater und später erst unterscheiden sie den einzelnen Menschen.“ Und davon ist der Grund offenbar. Denn wer etwas in unbestimmter Weise weiß, der ist noch im Zustande des Vermögens dafür, daß ihm das Princip des Unterschiedes im einzelnen bekannt wird; wie z. B. wer nur die allgemeine „Art“ kennt, noch vermögend dafür ist, daß er die Gattungsunterschiede kennt. Und so ist es klar, daß zwischen dem reinen Vermögen und dem vollendeten Akt in der Mitte steht die auf das noch Unbestimmte gehende Kenntnis. So ist also zu sagen, daß die Kenntnis des Einzelnen und Besondern als eines solchen früher ist für uns wie die Kenntnis des Allgemeinen; gleichwie die sinnliche Kenntnis früher ist als die vernünftige. Aber im Bereiche des Allgemeinen selber, als des eigensten Gegenstandes der Vernunft, ist das mehr Gemeinsame früher erkannt wie das minder Gemeinsame.
c) I. Die Natur eines Dinges als eine allgemeine kann 1. betrachtet werden zusammen mit dem Charakter oder der Eigentümlichkeit der Allgemeinheit. Und da dieser Charakter, daß nämlich ein und dasselbe Beziehung hat zu vielen Einzeldingen, erst Thatsächlichkeit gewinnt durch die Loslösung, welche von seiten der Vernunft vollzogen wird; so kann in dieser Auffassung das Allgemeine erst Gegenstand der Vernunft werden nach dem Besonderen, von dem es losgelöst worden. Deshalb heißt es (1. de anima): „Das Sinnbegabte im Allgemeinen aufgefaßt ist entweder nichts oder kommt in der Kenntnis nachher.“ Nach Plato freilich, der die allgemeinen Gattungen als für sich bestehende Einzeldinge nahm, muß das Allgemeine mit seinem Charakter als Allgemeines früher sein wie die beschränkten besonderen Dinge, die da einzelne nur sind durch Teilnahme am Sein der allgemeinen Gattungswesen, der Ideen. Es kann 2. das Allgemeine betrachtet werden mit Rücksicht auf die Natur selber, nämlich des Sinnbegabtseins z. B. oder des Menschseins, insoweit sie in den besonderen Dingen gefunden wird. Und da muß man antworten, es bestehe in der Natur eine doppelte Ordnung: eine, welche den Weg des Zeugens oder Entstehens und der Zeit befolgt; — und auf diesem Wege ist zuerst was unvollkommen ist und vermögend dazu, um in bestimmterer Weise zu sein; das mehr Gemeinsame ist da früher wie das minder Gemeinsame; da wird z. B. vorher das Gezeugte etwas Sinnbegabtes wie ein vollkommener Mensch. Die zweite Ordnung ist die der Vollkommenheit oder der Absicht, welcher die Natur folgt; wie die Thätigkeit ohne weiteres früher ist der Natur nach als das Vermögen, und das Vollkommene früher als das Unvollkommene; und in dieser Betrachtungsweise ist das minder Gemeinsame der Natur nach früher wie das mehr Gemeinsame, der „Mensch“ ist da früher wie das „Sinnbegabte“. Denn die Natur hat nicht als ersten Zweck die Erzeugung eines „Sinnbegabten“ und geht etwa dann weiter wie zum weiteren Zwecke zur Zeugung des Menschen. Ihr erster Zweck vielmehr ist, einen Menschen zu zeugen; und erst weil damit das Sinnbegabte verbunden ist, will sie auch etwas Sinnbegabtes erzeugen. II. Das Allgemeine, was mehr gemeinsam ist, steht zum Allgemeinen, welches minder gemeinsam ist, einerseits in Beziehung wie das Ganze zum Teil und andererseits wie der Teil zum Ganzen. Es ist wie das Ganze, insofern im mehr Gemeinsamen dem Vermögen nach eingeschlossen ist nicht nur das eine minder Gemeinsame, sondern auch anderes minder Gemeinsame; wie im „Sinnbegabten“ als dem mehr Gemeinsamen und mehr Umfassenden enthalten ist nicht nur der Mensch als das minder Gemeinsame, sondern auch das Pferd. Umgekehrt aber steht wieder andererseits das mehr Gemeinsame dem minder Gemeinsamen gegenüber wie ein Teil; weil das minder Gemeinsame in seiner Begriffsbestimmung nicht nur das mehr Gemeinsame gleichsam als Element oder als Teil der Begriffsbestimmung enthält, sondern auch noch Anderes; wie z. B. der Mensch als Ganzes zu einem seiner Teile nicht nur das „Sinnbegabte“ hat, sondern auch das Vernünftige. So also ist das „Sinnbegabte“ früher in unserer Kenntnis wie der Mensch; wenn es in sich betrachtet wird, wie das mehr Gemeinsame und Unbestimmtere früher ist in der Kenntnisnahme wie das minder Gemeinsame. Der „Mensch“ aber andererseits ist früher in unserer Kenntnis wie das „Sinnbegabte“, wenn dieses als ein Teil der Begriffsbestimmung oder der Natur des Menschen aufgefaßt wird. III. Der Teil kann 1. an und für sich betrachtet werden: und so steht dem nichts entgeggen, daß er früher erkannt sei wie das Ganze, wie ich z. B. die Steine früher erkennen kann als das Haus. Wird aber 2. der Teil als Teil eines Ganzen betrachtet, so muß ich früher das Ganze kennen wie den Teil. Denn zuerst kenne ich das Haus z. B. in einer gewissen unbestimmten Weise, ehe ich die Teile im einzelnen kenne. Demgemäß also wird geantwortet, daß die Teile einer Begriffsbestimmung, werden sie jeder an sich betrachtet, früher bekannt sind wie das, was begrifflich bestimmt wird; könnte doch sonst das letztere nicht durch diese Teile bekannt gemacht werden. So kenne ich z. B. was „sinnbegabt“ an und für sich ist und was „vernünftig“ ist, früher als den „Menschen“. Jedoch als Teile des Begriffes aufgefaßt sind sie erst nach dem begrifflich Bestimmten bekannt. Denn früher erkennen wir in unbestimmter Weise, was ein „Mensch“ ist, ehe wir uns von klar Rechenschaft geben vonden einzelnen, untereinander verschiedenen Teilen oder Elementen, welche den Begriff Mensch ausmachen. IV. Das Allgemeine, soweit es mit dem Charakter der Allgemeinheit ausgestattet wird, ist wohl gewissermaßen ein Princip des Erkennens, da der Charakter des Allgemeinen als solcher jener Art und Weise des Erkennens folgt, welche sich vermittelst der Loslosung vom Einzelnen vollzleht. Nicht aber ist es notwendig, daß Alles, was als Princip des Erkennens dasteht, auch Princip des Seins sei, wie Plato meint. Denn wir erkennen ja manchmal die Ursache durch die Wirkungen und das Wesen durch die von außen hinzutretenden Eigenschaften. Also was im Bereiche des Seins Ursache ist wird dann im Bereiche des Erkennens Verursachtes und Abgeleitetes. So aufgefaßt ist das Allgemeine nicht Princip des Seins, wie Aristoteles (7 Metaph.) sagt, und auch nicht Substanz. Wenn wir aber die Natur der „Art“ und Gattung betrachten, soweit sie in den besonderen einzelnen Dingen ist, so hat sie in gewissem Sinne den Charakter des maßgebenden Formalprincips rücksichtlich der Einzelheiten. Denn das Einzelne ist wegen und auf Grund des Stoffes; die Natur der Gattung aber wird von der Wesensform hergenommen. Die Natur der gemeinsamen „Art“ nun steht zur Natur der Gattung mehr im Verhältnisse des bestimmbaren Matenalprincips. Denn die Natur der „Art“ wird von jenem Momente innerhalb des Dinges genommen, was bestimmbar; die Natur der Gattung aber von jenem, was innerhalb des Dinges bestimmend und bethätigend ist; wie z. B. die Natur des „Sinnbegabten“ als der „Art“ vom sinnlichen bestimmbaren Teile genommen wird, die Natur des „Menschen“ als der Gattung vom bestimmenden, dem vernünftigen Teile. Und daher kommt es, daß die endgultig bestimmende Absicht der Natur in der Zeugung der Dinge auf die Gattungsform geht; nicht aber auf das Einzelwesen und auch nicht auf die „Art“. Denn die Erzeugung der allgemeinen bestimmenden Wesensform ist der Zweck des natürlichen Zeugens, der Stoff aber ist da wegen der Form. Es ist jedoch nicht nötig, daß die Kenntnis einer jeden Ursache oder eines jeden Princips für uns später sei; da wir bisweilen vermittelst der Erkenntnis der sinnlich wahrnehmbaren Ursachen bis dahin unbekannte Wirkungen erkennen, bisweilen es aber umgekehrt der Fall ist.
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