Erster Artikel. Die Notwendigkeit der heiligen Wissenschaft.
a) Gegen die Behauptung, daß die heilige Wissenschaft für den Menschen notwendig sei, scheint die Schrift, die Vernunft und die Erfahrung zu sprechen. Denn die Schrift warnt: „Forsche nicht nach dem, was über deine Vernunft und über deine Natur hervorragt.“ (Eccle. 3.) Die Vernunft ferner hat zum Gegenstande ihrer Forschung das Sein im allgemeinen; dieses Sein aber eläutern nach allen Richtungen hin die philosophischen Wissenschaften, also erscheint eine weitere Wissenschaft als diese letztgenannten nicht notmendig. Dazu kommt, daß gemäß der Erfahrung aller Jahrhunderte es immer ein Wissen über Gott bereits gegeben hat, welches demnach auch „theologia“, Theodicee, genannt worden ist. Es scheint also eine Notwendigkeit für die Existenz einer besonderen „Theologie“, einer sogenannten heiligen Wissenschaft, gar nicht zu bestehen. Auf der anderen Seite aber heißt es II. Tim. 3, 16.: „Jegliche, von Gott eingegebene Schrift ist nützlich, um zu lehren, zu überzeugen, zu bessern, zu erziehen zur Gerechtigkeit.“ Die heilige Schrift aber, welche hier als Quelle einer gewissen Kenntnis genannt wird, ist außerhalb aller Zweige der Philosophie, die von der natürlichen menschlichen Vernunft erfunden worden sind. Also erscheint eine solche Kenntnis, die nicht zur natürlichen Philosophie gehört, wenigstens als nützliche.
a) Ich antworte, es sei für das Heil der menschlichen Natur notwendig, daß außer den philosophischen Wissenszweigen, welche die menschliche Vernunft zum Gegenstande hat, eine Wissenschaft bestehe, die sich auf die göttliche Offenbarung stützt und in dieser ihr leitendes Princip sieht. Die Gründe sind folgende: 1. Der Mensch hat zu Gott Beziehung als zu einem Endzwecke, welcher die Begriffskraft der Vernunft überragt. Denn es steht geschrieben: „Das Auge hat nicht geschaut, o Gott, ohne Dich, was Du bereitet hast denen, die Dich lieben.“ (Isai 64.) Der Endzweck aber, soll anders der Mensch seine innere Meinung und sein Handeln danach einrichten und zum betreffenden Zwecke hinlenken, muß notwendigerweise vorher erkannt werden. Deshalb war es eine Notwendigkeit, daß, diesen Endzweck vorausgesetzt, dem Menschen einige Wahrheiten durch Offenbarung mitgeteilt wurden, welche die Begriffskraft der menschlichen Vernunft überragen. 2. Zudem war es auch nach einer anderen Seite hin notwendig, daß der Mensch durch Offenbarung von seiten Gottes unterrichtet würde: nämlich für das leichtere Verständnis der rein natürlichen Wahrheiten. Denn was für Wahrheiten die menschliche Vernunft über Gott erforscht hat, das wissen verhältnismäßig nur wenige; und zwar erkennen sie es mit Zuverlässigleit erst nach längerer Zeit; und noch dazu unter Beimischung mannigfacher Irrtümer; — und doch hängt von der Kenntnis dieser Wahrheiten das Gesamtwohl des Menschen ab, das ja in Gott besteht. Damit also die Menschen ihr Heil mit mehr Sicherheit und größerer Leichtigkeit finden, war es notwendig, daß sie über die göttlichen Dinge vermittelst der göttlichen Offenbarung unterrichtet würden. Somit erhellt die Notwendigleit, daß außer den rein philosophischen Wissenschaften, in denen die natürliche Vernunft Maß und Richtschnur ist, auch eine heilige Wissenschaft es gebe, welcher als Stütze, Maß und Richtschnur die Offenbarung dient.
c) Daraus ergiebt sich zugleich die Erwiderung auf die Gegengründe. Was die Schrift betrifft, so erklärt sie sich an der bezeichneten Stelle selber. Denn sie sagt unmittelbar darauf: „Vieles, was die auf die Sinne angewiesene natürliche Vernunft des Menschen übersteigt, ist dir gezeigt worden.“ Die Vernunft wäre allerdings gegen die Notwendigkeit der heiligen Wissenschaft in dem Falle, daß diese auf Principien sich stützte, welche bereits die reine natürliche Vernunft an die Hand giebt; nach dieser Seite hin wäre nämlich durch die verschiedenen philosophischen Wissenszweige vorgesorgt. Dieser Fall tritt aber hier nicht ein. Vielmehr sind die Principien, aus denen die heilige Wissenschaft vorgeht, von Gott im Glauben offenbart; und liegt der Vernunft in der heiligen Wissenschaft nur ob, dieselben auf d5ie verschiedenen natürlichen Verhältnisse anzuwenden. Wo aber die Principien, welche einem Wissen zu Grunde liegen, verschieden sind, da ist auch das Wissen selber verschieden. Was schließlich auf Grund der Erfahrung entgegengehalten worden ist, das hält auch nicht die Probe aus. Denn die Verschiedenheit der Wissenschaften hängt ab, wie eben gesagt wurde, von der Verschiedenheit der maßgebenden Beweisgründe oder Principien. Sowohl der Astronom als auch der bloße Naturphilosoph z. B. beweist, daß die Erde rund ist. Aber der erstere beweist dies aus mathematischen Gründen, also durch Principien, die an und für sich von einem bestimmten Stoffe absehen; der Naturphilosoph aber, der sich mit den stofflichen Dingen als bestimmt stofflichen, d. h. unter den Schranken von Zeit und Ort stehenden Dingen beschäftigt, beweist diese selbe Wahrheit mit solchen Gründen und vermittelst solcher Principien, welche unmittelbar aus dem bestimmten Stoffe geschöpft sind, somit vom bestimmten Stoffe nicht absehen, sondern ihn als solchen voraussetzen. Deshalb sind die Astronomie und die Naturphilosophie immerdar verschiedene Wissenschaften, mag auch das Ergebnis ihres Forschens. materiell derselbe Satz sein; denn von verschiedenen Arten von Gründen geht in ihren Beweisen die eine und die andere aus. Somit kann wohl auch die natürliche Philosophie über göttliche Dinge forschen und über sie Behauptungen aufstellen; und trotzdem ist sie deshalb nicht die gleiche Wissenschaft wie die heilige, selbst mit Rücksicht auf die für beide gemeinschaftlichen Behauptungen, wie z. B. die Existenz Gottes dies ist. Denn die Principien für eine jede von beiden sind verschieden: bei der einen „Theologie“ sind diese Principien reine Erzeugnisse der natürlichen Vernunft; bei der anderen sind sie vom Glauben geoffenbart.
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