Zweiter Artikel. Die vom Leibe getrennte Seele erkennt stofflose Substanzen.
a) Dem steht entgegen: I. Da die Seele ihrer Natur nach ein Teil der menschlichen Natur ist, so ist sie vollkommener, wenn sie mit dem Körper verbunden ist als wenn sie von ihm getrennt lebt. Denn jeglicher Teil ist der Vollkommenheit näher, wenn er im Ganzen sich befindet als wenn er allein für sich existiert. Die Seele aber mit dem Körper verbunden, also in einem vollkommeneren Zustande, erkennt nicht die stofflosen Substanzen; also noch weniger kann sie dies als vom Körper getrennt bestehend. II. Alles, was erkannt wird, das wird entweder kraft seiner Gegenwart erkannt oder kraft der ihm ähnlichen Idee. Durch ihre Gegenwart in der Seele aber können die stofflosen Substanzen nicht erkannt werden; denn kein anderes Wesen tritt in die Seele wie Gott. Auch können sie nicht durch Ideen vertreten sein, welche die Seele etwa für sich vom Engel ableiten kann. Denn der Engel hat ein einfacheres Sein wie die Seele; letztere kann demgemäß von diesem nichts loslösen, was ihr die betreffende Kenntnis zu vermitteln vermöchte. Also kann in keiner Weise die Seele die stofflosen Substanzen kennen. III. Einzelne Philosophen setzten in das Schauen der stofflosen Substanzen die letzte Glückseligkeit der Seele. Kann also die vom Körper getrennte Seele die stofflosen Substanzen schauen, so wäre sie allein bereits kraft ihrer Trennung glückselig; was widersinnig ist. Auf der anderen Seite erkennen die getrennten Seelen andere vom Körper getrennte Seelen; wie der Reiche in der Hölle den Lazarus und den Abraham erkannte. (Luk. 16.) Also erkennen sie auch die Dämonen und die Engel.
b) Ich antworte, daß, wie Augustin sagt (9. de Trin. 3.), „unser Geist die Kenntnis der unkörperlichen Dinge durch sich selbst erhält,“ d. h. dadurch, daß er sich selbst erkennt. Dadurch also daß die vom Leibe getrennte Seele sich selbst erkennt, können wir sehen, in welcher Weise sie die anderen stofflosen Wesen erkennt. So lange sie nämlich im Körper ist, erkennt sie dadurch daß sie sich zu den Phantasiebildern wendet. Und deshalb kann sie sich selbst nur erkennen, insoweit sie thatsächlich erkennend wird durch die von den Phantasiebildern losgelöste Idee; und so erkennt sie durch ihre Thätigkeit sich selbst. Ist sie aber vom Körper getrennt, so erkennt sie nicht, indem sie sich den Phantasiebildern zuwendet, sondern indem sie auf das an sich Erkennbare unmittelbar gerichtet ist; somit erkennt sie sich selbst nicht mehr mit Voraussetzung der Phantasiebilder, sondern rein durch sich selbst. Das aber ist gemeinsam allen vom Stoffe getrennt bestehenden Substanzen, daß eine jede das, was über ihr ist, und das, was unter ihr besteht, erkennt nach der Seinsweise ihrer Substanz. Denn so wird etwas verstanden, wie es innerhalb des Erkennenden sich findet. Es ist jedoch das eine im anderen gemäß der Seinsweise dessen, worin es ist. Die Seinsweise aber der Engel-Substanzen steht über der Seinsweife der vom Körper getrennten Seelen; während die Seinsweise der einen getrennten Seele der Seinsweise der anderen gleichförmig ist. Deshalb hat die vom Leibe getrennte Seele von den anderen ähnlichen Seelen eine vollkommene Kenntnis; von den Engeln aber eine unvollkommene und mangelhafte. Das gilt aber nur von der natürlichen Kenntnis; nicht von der in der Herrlichkeit.
c) I. Die menschliche Seele ist zwar unvollkommener in ihrer Trennung vom Körper, wenn die Natur des Körpers erwogen wird, welche von ihr geformt worden. Im Erkennen aber ist sie sozusagen freier; denn sie wird nicht mehr von körperlichen Einflüssen beschwert. II. Die getrennte Seele versteht die Engel vermittelst Ähnlichkeiten (Ideen), die durch göttlichen Einfluß ihr eingeprägt worden. Diese Ähnlichkeiten stellen aber nicht in vollendeter Weise die Natur der Engel dar, weil sie der Natur der Seele angemessen sein müssen, die tiefer steht wie die Engel. III. Nur im Schauen Gottes allein besteht das Endglück der Seele; und Gott kann nur geschaut werden vermittelst der Gnade. Werden jedoch die Engel-Substanzen vollkommen geschaut, so ist dies eine große Seligkeit. Ein solch vollkommenes Schauen gewährt aber die Natur nicht.
