Zweiter Artikel. Die heilige Wissenschaft hat den Charakter wahrer Wissenschaft.
a) Daß die heilige Wissenschaft wahrhaft Wissenschaft sei, scheint aus zwei Gründen geleugnet werden zu müssen. I. Dem Wissen als solchem ist es wesentlich eigen, vom Bekannteren zum Unbekannteren vorzuschreiten; und daraus folgt, daß schließlich jeglicher wahren Wissenschaft Principien zu Grunde liegen müssen, welche durch und aus sich allein anerkannt sind, nämlich keinerlei weiteren Beweises bedürfen, also als allgemein bekannt vorausgesetzt werden; wie z. B. „das Ganze ist größer als einer von seinen Teilen“ oder „ein und dasselbe kann nicht zugleich thatsächlich bestehen und nicht bestehen“. Die heilige Wissenschaft aber geht von den Glaubensartikeln als ihren Principien aus, die nicht aus und durch sich selbst klar, also nicht allgemein bekannt sind; denn „nicht alle haben den Glauben“, heißt es II. Thess. 3. II. Dem Wissen ist es ferner wesentlich eigen, daß es sich nicht auf das Einzelne, sondern auf das Allgemeine richtet. Nicht z. B. ist der einzelne Mensch Petrus an und für sich Gegenstand des Wissens, sondern der einzelne Mensch ist es auf Grund der allgemeinen Gattung „Mensch“; soweit der einzelne nämlich an dieser Gattung teilnimmt und in ihr den formalen Grund seines Seins hat. Die heilige Wissenschaft aber behandelt einzelne Thatsachen als einzelne und nicht unter dem Gesichtspunkte der Allgemeinheit; wie z. B. die Handlungen Abrahams, Isaaks und Jakobs und ähnliche. Also scheint ihr der Charakter wahrer Wissenschaft nicht zuzukommen. Auf der anderen Seite sagt jedoch Augustin (14. de Trin. cap. 1.): „Dieser Wissenschaft kommt alles jenes zu, wodurch der im höchsten Grade heilbringende Glaube erzeugt, genährt, verteidigt, gestärkt wird.“ Das kommt aber keiner anderen Wissenschaft zu als eben der heiligen. Nach Augustin also und ebenso gemäß dem Grunde, den er anführt, muß die heilige Wissenschaft den Charakter wahren Wissens haben.
b) Ich antworte, daß die heilige Wissenschaft wirklich eine Wissenschaft ist. Es muß dabei bemerkt werden, daß es eine doppelte Art von Wissenschaften giebt. Denn die einen, wie die Arithmetik, Geometrie und ähnliche, gehen von Principien aus, welche durch und aus sich klar und somit für das natürliche Licht der Vernunft annehmbar sind. Andere Wissenschaften aber gehen von Principien aus, die nur kraft des Lichtes einer höheren Wissenschaft an und durch sich bekannt, d. h. evident sind; wie z. B. die Perspektive von Principien ausgeht, welche die Geometrie ihr leiht und die nur in der letzteren wissenschaftlich gerechtfertigt werden; die also in der Wissenschaft der Perspektive nicht erwiesen, sondern als gewiß vorausgesetzt sind; und in eben solchem Verhältnisse steht die Musik zur Arithmetik. Zur Art dieser an zweiter Stelle genannten Wissenschaften gehört die heilige Wissenschaft. Denn sie geht aus von Principien, die zwar nicht von ihr begriffen und erwiesen werden, also ihr auch nicht speciell aus sich allein heraus bekannt sind; — sondern ihre Principien sind aus sich heraus klar nur im Lichte einer höheren Wissenschaft; nämlich der Gottes und der Seligen. Gleichwie daher die Musik annimmt und glaubt jene Principien, welche die Arithmetik ihr giebt; so nimmt die heilige Wissenschaft an und glaubt die Principien, welche von Gott geoffenbart worden.
c) I. Es wird demgemäß auf den ersten Gegengrund erwidert, daß die innerhalb einer Wissenschaft maßgebenden Principien entweder aus sich heraus bekannt sind oder dadurch, daß sie auf eine höhere Wissenschaft zurückgeführt werden, in welcher sie evident sind und von welcher die untergeordnete Wissenschaft sie empfängt. Zu der Art der letzteren gehören die Principien der heiligen Wissenschaft; sie verbinben unmittelbar mit Gott, denn da, nämlich in Gott, wird geschaut, was hier geglaubt wird; und der einzige feststehende Grund in der heiligen Wissenschaft ist die Evidenz der Glaubensartikel in Gott. II. Was aber die einzelnen Thatsachen anbelangt, welche in der heiligen Wissenschaft vorkommen; so ist es zurückzuweisen, wenn gemeint werden sollte, dieselben seien Hauptgegenstand der heiligen Erkenntnis. Sie werden vielmehr nur aIs Beispiele benützt, wenn es sich um ein tugendhaftes Leben handelt, wie in der Moralwissenschaft; oder sie dienen zur Empfehlung der Autorität jener Männer, welche die sichtbaren Träger der Offenbarung gewesen.
