Zweiter Artikel. Über den Gegensatz des „Einen“ zum „Vielen“.
a) Das „Eine“ und das „Viele“ stehen in gar keinem Gegensatze. Denn: I. Wenn eines dem anderen entgegengesetzt ist, so wird das eine nicht vom anderen als Prädikat ausgesagt; wie z. B. das Schwarze nicht vom Weißen ausgesagt wird. Jede Vielheit aber ist in gewissem Sinne etwas „Eines“; das „Eine“ wird also von jeder Menge ausgesagt. Also besteht zwischen „Einem“ und «Vielem“ gar kein Gegensatz. II. Nichts wird durch das gebildet, was zu ihm im Gegensatze sich befindet. Die Vielheit aber wird gebildet durch die Einheit. Also existiert da kein Gegensatz. III. Ein einzelnes Ding ist nur einem anderen entgegengesetzt. Der Gegensatz zu „Vielem“ ist aber „Wenig“. Also ist es nicht das „Eine“. IV. Wenn das „Eine“ zum „Vielen“ im Gegensatze steht, so ist dies derselbe Gegensatz wie zwischen dem Ungeteilten und Geteilten; also wie zwischen einem Zustande und dem Mangel an selbem: wie z. B. zwischen der Blindheit und dem Sehen; so daß das Ungeteilte der Mangel oder das Entbehren wäre und das Geteilte der Zustand selber. Das erscheint aber unzuträglich. Denn es würde folgen, daß das „Eine“ dem Begriffe nach später sei als die Vielheit und vermittelst der letzteren definiert würde; wie die Blindheit definiert wird als Mangel oder Entbehren des Sehens; da doch vielmehr die Vielheit vermittelst des „Einen“ definiert wird. Sonach wäre ein Zirkelschluß vorhanden. Es giebt also keinen Gegensatz zwischen „Einem“ und „Vielem“. Auf der anderen Seite sind zwei Dinge zu einander im Gegensatze, deren Wesen diesen Gegensatz voraussetzen. Das Wesen des „Einen“ aber besteht in der Ungeteiltheit, das des „Vielen“ in der Geteiltheit. Also ist ein Gegensatz vorhanden.
b) Ich antworte, daß „Eines“ dem „Vielen“ gegenübersteht, aber in verschiedener Weise. Denn die Einheit, welche das Princip der Zahl ist, also nur der Quantität als der „Art“ zugehört, steht im Gegensatze zur Vielheit, welche die Zahl ist, wie das Maß zum Gemessenen. Die Einheit ist ihrem Wesen nach das erste Maß; und die Zahl ist eine Vielheit, welche durch die Einheit gemessen ist. Das „Eine“ aber, insoweit es ein und dasselbe ist wie das Sein, steht im Gegensatze zur Menge, wie der Mangel an etwas zu diesem „etwas“; nämlich wie die Ungeteiltheit zur Geteiltheit.
c) I. Kein Mangel hebt ganz und gar das Sein auf. Denn Mangel oder Privation ist nach Aristoteles Verneinung in einem Subjekte, also in einem Sein. (IV. Mataph.) Der Mangel nimmt jedoch vom Sein immerhin etwas fort. Und sonach geschieht es beim Sein, daß auf Grund der Allgemeinheit des Seins, was ja nie und nirgends, wo überhaupt etwas ist, fehlen kann, der Mangel an Sein im Sein selber begründet ist; was sonst nicht geschieht. Denn bei der Blindheit bleibt nichts vom thatsächlichen Sein des Sehens bestehen und bei der Weiße nicht das Schwarze; es bleibt in diesen letzteren Fällen wohl das entferntere Subjekt: der Mensch, die Wand. Aber von dem Zustande selber, welcher mangelt, ist nichts da. Beim Mangel am Sein bleibt aber immer wieder Sein bestehen. Und so wie es mit dem Sein sich verhält, so steht es auch mit dem „Einen“, mit dem Guten, was ja alles mit dem Sein in Wirklichkeit zusammenfällt. Der Mangel am Guten ist in etwas Gutem begründet; und ähnlich ist, wenn das „Eine“ entfernt wird, dieser Mangel von jenem „Einen“ getragen, was zurückbleibt; bliebe kein „Eines“ zurück, so bestände auch kein Sein und ohne Sein kein Mangel. Und daher kommt es, daß die Menge im gewissen Sinne ein „Eines“ ist; und das Übel nach einer Seite hin ein gewisses Gut und das Nicht-Sein (Mangel an Sein) gewissermaßen Sein. Damit ist aber nicht ausgesprochen, daß der eine Gegensatz vom anderen als Prädikat ausgesagt wird. Denn das eine von diesen Prädikaten gilt schlechthin ohne Voraussetzung und Bedingung; das andere nur gewissermaßen, nämlich nach einer Seite hin. Was nur gewissermaßen, also nur unter einer Beziehung Sein ist wie die Möglichkeit zu sein; das ist nimmermehr schlechthin Sein. Und was Sein hat schlechthin wie die Substanz, das ist Nicht-Sein gewissermaßen, nämlich mit Beziehung auf die Eigenschaften, Zustände und Fähigkeiten, die mit dem Sein der Substanz nicht gegeben sind, sondern zur selben hinzutreten. Ebenso was gut ist gewissermaßen, nach einer Seite hin, das ist böse schlechthin und umgekehrt. Und ähnlich, was ein „Eines“ ist schlechthin, das ist „Vieles“ in gewisser Beziehung. II. Zweifacher Art ist das Ganze: es giebt ein aus gleichartigen Teilen bestehendes Ganze und ein anderes, welches aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist. Zur ersten Art gehört z. B. das Wasser, von dem jeder Teil wieder Wasser ist, wo also jeder Teil die Wesensform des Ganzen trägt. Dies ist das sogenannte zusammenhängende Ganze, das continuum. Zur zweiten Art gehört z. B. das Haus, denn kein Teil eines Hauses ist wieder Haus und trägt somit die Wesensform des Ganzen. Und dies ist eine Vielheit oder Menge. Insoweit also der Teil im letzteren nicht das Wesen des Ganzen hat, wird die Vielheit aus Einheiten zusammengesetzt, das Haus aus Nicht-Häusern. Nicht aber bilden die Einheiten die Vielheit, insoweit sie ungeteilt sind, nicht kraft ihres Wesens als Einheit und somit nicht insoweit sie der Vielheit als solcher entgegengesetzt sind; sondern insofern diese vielen Einheiten ein positives Sein zum Inhalte haben. Die Teile bilden das Haus, insofern sie körperlich sind; nicht jedoch als Nicht-Häuser oder der Geteiltheit ermangelnde Einheiten. III. „Viel“ steht im Gegensatze zu „Einem“ kraft seines Wesens. Es steht im Gegensatze zu „wenig“, nur insoweit es einen Überfluß bedingt; also nur gewissermaßen. Im ersten Sinne ist „zwei“ eine Vielheit; im zweiten nicht. IV. Das „Eine“ ist im privativen Gegensatze zum „Vielen“. Es ist der Mangel an Vielem, insofern es dem Wesen von „Vielem“ entspricht, daß es geteilt ist. Somit ist die Geteiltheit früher dem Begriffe nach als die Einheit; da letztere eben im Mangel der Geteiltheit besteht. Dies hat aber seinen Grund nur in der Art und Weise unserer Auffassung; weil wir Einfaches einzig und allein mit Hilfe und vermittelst des Zusammengesetzten erfassen. So definieren wir den „Punkt“ als: was keinen Teil an sich hat oder was sich nicht teilen läßt oder als den Beginn der Linie. Die Vielheit aber, was ihren positiven Inhalt betrifft, folgt — ebenfalls nach unserer Vernunft — dem „Einen“. Nur für die Gewinnung der Idee geht die Geteiltheit voran. Denn voneinander Geschiedenes verstehen wir nicht als eine Menge oder Vielheit, außer insoweit wir einem jeden der Geschiedenen eine Einheit beilegen. Deshalb steht die Einheit in der Definition der Vielheit; nicht aber die Vielheit in der Definition der Einheit. Die Geteiltheit aber ist in unserem Verstände unmittelbar infolge der einfachen Verneinung des Seins. So ist in unserer Vernunft zuerst die Auffassung des Seins; dann daß dieses Sein nicht jenes ist; dann die Geteiltheit; dann das Eine; dann die Vielheit.