Sechster Artikel. Die Seligkeit besteht nicht in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften.
a) Dementgegen sagt: I. Aristoteles (10 Ethic. 7.): „Die Glückseligkeit besteht in der Thätigkeit, die sich gemäß der vollendeten Kraft oder Tugend vollzieht.“ Darauf unterscheidet er die spekulativen Kräfte oder Tugenden und nimmt deren nur drei an: Wissenschaft, Weisheit und Verständnis; die da alle drei der Betrachtung spekulativer Wissenschaften dienen. Also besteht die Seligkeit in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften. II. Die letzte Seligkeit des Menschen besteht in dem, was von allen um seiner selbst kraft der Natur verlangt wird. Derartig aber ist die Betrachtung der spekulativen Wissenschaften; denn „alle Menschen verlangen von Natur nach Wissen“ (1. Metaph.), und „die spekulativen Wissenschaften werden wegen ihrer selbst gesucht“. (l. c. cap. 2.) Also darin besteht die Seligkeit. III. Die Seligkeit ist die letzte Vollendung des Menschen. Jegliches Wesen aber wird vollendet, je nach dem es vom Zustande des Vermögens in den des Thatsächlichseins übergeht; was bei der Vernunft durch die Betrachtung der spekulativen Wissenschaften geschieht.Auf der anderen Seite heißt es bei Jerem. 9.: „Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit;“ worunter die spekulativen Wissenschaften verstanden werden.
b) Ich antworte, wie oben bereits bemerkt wurde, daß des Menschen Seligkeit eine doppelte sei: eine vollendete und eine unvollendete. Die vollendete Seligkeit erreicht den wahren Grund aller Seligkeit. Die unvollendete erreicht selben zwar nicht, nimmt aber teil an einer gewissen Ähnlichkeit der Seligkeit. So ist die Klugheit im Menschen vollendet, insofern der Grund im allgemeinen für die Handlungen oder die zu wirkenden Dinge in ihm sich findet; in gewissen Tieren aber ist sie unvollendet, insofern sie besondere beschränkte Instinkte besitzen, um Einiges zu thun, was den von der Klugheit ausgehenden Werken ähnlich ist. Die vollendete Seligkeit nun kann unmöglich ihrem Wesen nach in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften bestehen. . Zu dessen Veranschaulichung muß man berücksichtigen, daß die Betrachtung einer spekulativen Wissenschaft sich nicht weiter erstrecken kann, als die Kraft der Principien jener Wissenschaft reicht; weil in den Principien einer Wissenschaft gemäß der zu entwickelnden Kraft die ganze Wissenschaft enthalten ist. Die ersten Principien der spekulativen Wissenschaften empfangen wir aber vermittelst der Sinne nach 1 Mwtaph. Also die ganze Betrachtung der spekulativen Wissenschaften kann sich nicht weiter erstrecken als die Kenntnis der sichtbaren Dinge führen kann. In einer solchen Kenntnis kann jedoch nicht die letzte Seligkeit des Menschen bestehen, die da ist seine letzte Vollendung. Denn kein Wesen wird vervollkommnet von etwas Niedrigerem, außer insoweit in diesem Niedrigeren eine Teilnahme sich findet an etwas Höherem. Offenbar nun ist die Wesensform des Steines oder sonst einer sinnlich wahrnehmbaren Sache niedriger als der Mensch; so daß durch die Wesensform des Steines die Vernunft nur insoweit vollendet wird als in einer solchen Wesensform die Teilnahme und Ähnlichkeit ist, mit Rücksicht auf etwas, was über der menschlichen Vernunft ist: die Teilnahme nämlich am Lichte der Vernunft als etwas vernünftig Erkennbares. Was aber nur kraft der Teilnahme an etwas Anderem ist, das läßt sich zurückführen auf das, was dieses selbe dem Wesen nach ist; wie die Zimmerwärme auf das Feuer. Also muß die letzte Vollendung des Menschen sich vollziehen durch die Kenntnis eines Gegenstandes, der über der menschlichen Vernunft steht. Vermittelst der sichtbaren Dinge aber kann man nicht kommen zur Kenntnis der vom Stoffe und von der Sichtbarkeit getrennten kraft ihrer Wesenssubstanz bereits vernünftigen Substanzen, wie I. Kap. 88, Art. 2 hervorgehoben worden; denn diese Substanzen sind ihrem Wesen nach erhaben über die menschliche Vernunft. Also kann des Menschen letzte Seligkeit nicht bestehen in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften. Wie jedoch die sinnlich wahrnehmbaren Wesen kraft ihrer Formen an einer gewissen Ähnlichkeit mit den stofflosen Substanzen teilnehmen, so liegt in der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften eine gewisse Teilnahme an der wahren und vollendeten Seligkeit.
c) I. Aristoteles spricht da von der unvollendeten Glückseligkeit in diesem Leben. II. Kraft der Natur verlangen wir nicht nur nach der vollendeten Seligkeit, sondern auch nach deren irgendwie beschaffenen Ähnlichkeit oder Teilnahme an selbiger. III. Vermittelst der Betrachtung der spekulativen Wissenschaften geht die Vernunft in eine gewisse Thätigkeit über; nicht aber in die letzte und vollendete.
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