Dritter Artikel. Über die Seligkeit in diesem Leben.
a) Selig kann man auch sein in diesem Leben. Denn: I. Psalm 118. sagt: „Selig, die unbefleckt sind in diesem Leben, die da wandeln im Gesetze Gottes;“ was nur auf dieses Leben Anwendung findet. II. Eine weniger vollendete Teilnahme am höchsten Gute beläßt immerdar den Wesenscharakter der Seligkeit; sonst gäbe es niemand, der weniger selig wäre wie der andere. In diesem Leben aber können alle teilnehmen, wenn auch unvollendeterweise, am höchsten Gute durch Kenntnis und Liebe desselben. III. Der Natur entsprechend scheint das zu sein, was in der großen Mehrzahl von Dingen ein und derselben Gattung sich findet; denn was zur Natur gehört, wird in der großen Mehrzahl nicht vermißt. Die große Mehrzahl aber legt die Seligkeit in dieses Leben, wie es im Ps. 143. heißt: „Selig nannten sie das Volk, dem dies gehört;“ nämlich die Güter des gegenwärtigen Lebens. Auf der anderen Seite heißt es bei Job 14.: „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt nur kurze Zeit und ist angefüllt von vielem Elend.“ Die Seligkeit aber schließt alles Elend aus. Also findet sich in diesem Leben nicht die Seligkeit.
b) Ich antworte; einen gewissen Anteil an der Seligkeit kann man in diesem Leben haben; die wahre und vollendete Seligkeit aber kann in diesem Leben nicht gefunden werden. Das erhellt aus zwei Erwägungen: 1. Da die Seligkeit das vollendete und allseitig hinreichende Gut ist, so muß sie alles Übel ausschließen und alles Verlangen nach Gutem befriedigen. In diesem Leben aber kann nicht alles Übel ausgeschlossen werden. Denn unvermeidlichen Übeln unterliegt das gegenwärtige Leben, sowohl nämlich der Unwissenheit von seiten der Vernunft als auch der ungeregelten Zuneigung von seiten des Begehrens und vielfachen Beschwerlichkeiten von seiten des Körpers, wie Augustin (19. de Civ. Die c. 5, 6, 7.) weiter ausführt. Ähnlich kann auch das Verlangen nach Gutem in diesem Leben nicht voll befriedigt werden. Denn kraft seiner Natur begehrt der Mensch die Dauer jenes Gutes, welches er besitzt. Die Güter dieses Lebens aber gehen vorüber, da ja auch das Leben selber vorübergeht, nach welchem wir kraft der Natur verlangen und welches wir beständig festhalten möchten, da die Natur des Menschen den Tod flieht. 2. Das Gut, worin im besonderen die Seligkeit besteht, nämlich das Anschauen des göttlichen Wesens, kann dem Menschen in diesem Leben nicht zukommen, wie I. Kap. 12, Art. 2 gezeigt worden. Also die vollendete Seligkeit kann niemand in diesem Leben besitzen.
c) I. Selig werden manche genannt in diesem Leben, entweder auf Grund der Hoffnung, die Seligkeit im künftigen Leben zu erlangen, wie Röm. 8, 24. gesagt wird: „Durch die Hoffnung sind wir gerettet worden;“ oder auf Grund einer etwelchen Teilnahme an der Seligkeit gemäß einer gewissen Freude am höchsten Gute. II. Die Teilnahme an der Seligkeit kann in zweifacher Weise eineunvollendete sein: einmal von seiten des Gegenstandes selber der Seligkeit, welcher nicht kraft seines eigenen Wesens geschaut wird; — und ein solcher Mangel an Vollendung nimmt den Wesenscharakter der Seligkeit fort. Dann kann sie unvollendet sein von seiten des die Seligkeit Genießenden, der wohl den Gegenstand der Seligkeit selbst, nämlich Gott, wie Er ist, erreicht; aber in unvollendeter Weise im Vergleiche mit der Art und Weise, wie Gott an sich selber Freude hat. Ein solcher Mangel an Vollendung nimmt jedoch den Wesenscharakter der Seligkeit nicht fort; denn die Seligkeit ist eine Thätigkeit oder ein Akt und somit leitet sich der Wesenscharakter der Seligkeit ab vom Gegenstande, der dem Akte seine bestimmte Gattung giebt; nicht aber vom Thätigseienden, vom Subjekt. III. Die Menschen nehmen für dieses Leben eine gewisse Seligkeit an gemäß einer etwelchen Ähnlichkeit mit der wahren Seligkeit; und so ist ihre Annahme nicht durchaus falsch.