Zehnter Artikel. Was auch immer in Gott gesehen wird, das wird alles zugleich gesehen.
a) Es scheint nicht in der Ordnung, daß man vieles zugleich verstehe oder einsehe. Denn: I. Aristoteles schreibt (II. Topic. c. 4.): „Man kann wohl vieles wissen, aber nur eines immer thatsächlich verstehen.“ Was aber in Gott gesehen wird, das wird durch und durch verstanden. Also sehen die Seligen nicht alles zugleich in Gott. II. Augustinus sagt (8. super Gen. ad litt.): „Gott bethätigt und bestimmt die rein geistige Kreatur vermittelst der Zeit,“ also vermittelst der Erkenntnis und der Neigung des Willens, denn andere Vermögen haben die reinen Geister nicht. Die Zeit aber bedeutet Aufeinanderfolge; und andererseits schauen die Engel das göttliche Wesen. Also verstehen dieselben das, was in Gott ist, in gewisser Aufeinanderfolge und richten danach ihren Willen ein; nicht aber zugleich. Auf der anderen Seite sagt jedoch derselbe Augustin (15. de Trin. cap. 16.): „Nicht wandelbar werden dann sein unsere Gedanken und nicht von dem einen zum anderen sich wenden, sondern all unser Wissen werden wir auf einmal vor uns sehen.“
b) Ich antworte, daß, was auch immer im göttlichen „Worte“ gesehen wird, dies Alles zugleich und nicht mit einer gewissen Aufeinanderfolge erscheint. Zur weiteren Klarstellung möge man erwägen, daß, wenn wir nicht vieles zugleich verstehen können, dies darum statthat, weil wir das Viele verrmittelst verschiedener Ideen oder vieler maßgebenden Erkenntnisformen verstehen. Von solchen Ideen aber, welche voneinander verschieden sind, kann die Vernunft nicht thatsächlich zugleich geformt und für den entsprechenden Erkenntnisakt bestimmt werden; gleichwie ein und derselbe Körper nicht zugleich verschiedene Figuren tragen kann. Daher geschieht es, daß, wenn wir viele Dinge unter ein und derselben Idee verstehen können, wir dann auch vieles zugleich verstehen; wie z. B. die einzelnen Teile eines Ganzen unter Aufeinanderfolge und nicht zugleich verstanden werden, wenn jeder Teil für sich gemäß seiner eigenen Idee, unabhängig vom anderen, aufgefaßt wird. Werden aber alle Teile unter der Idee oder der Form des Ganzen zusammengefaßt, so sind sie alle zugleich und ohne Aufeinanderfolge Gegenstande des Verständnisses. Welche Dinge aber auch immer in Gott als erkennbare erscheinen; sie werden nicht verstanden kraft ihrer eigenen besonderen Ahnlichkeiten oder Formen und somit nicht kraft eigener einem jeden eigens entsprechenden Ideen, sondern (vgl. Art. 9.) kraft des einen Wesens und somit kraft der einen Ähnlichkeit in Gott. Also werden sie kraft der einen Form auch alle zugleich gesehen.
c) I. Eines verstehen wir immer nur, insoweit unsere Vernunft vermittelst einer Idee geformt ist. Vieles wissen wir, insofern die eine Idee viele Dinge umfaßt; wie in der Idee „Mensch“ wir das Vernünftige und Sinnliche erkennen und in der Idee „Haus“ das Dach und die Wände. So sehen wir alles zugleich in Gott, weil da die eine Wesenheit Gottes die Stelle der Idee vertritt. II. Die Engel haben, soweit es ihre natürliche Kenntnis betrifft, die ihnen eingeborenen natürlichen Ideen; und gemäß diesen erkennen sie mit Aufeinanderfolge und werden bethätigt und bestimmt durch die Zeit. Soweit sie die Dinge in Gott schauen, sehen sie dieselben als durchaus gleichzeitige.