1.
O Gütiger, dessen Pforte auch den Bösen und Sündern offensteht, verleihe mir, einzutreten und Deine Schönheit staunend zu betrachten! O Speicher aller Güter, aus welchem auch die Undankbaren gesättigt werden, durch Dich möge ich ernährt werden, da Du ganz Leben bist für die, welche Dich kosten! O Becher, dessen Trank die Seele berauscht, so daß sie ihre Leiden vergißt, aus Dir will ich trinken, um durch Dich be- S. 286 lehrt von Dir zu erzählen! Der Du nicht verschmähst, unser unwürdiges Geschlecht zu verherrlichen, mögest Du meine Reden durch Deine lieblichen Hymnen verherrlichen! O Sohn der Jungfrau, der Du zum Kinde der Niedrigkeit geworden bist, verleihe meiner Niedrigkeit, von Deiner Majestät zu reden! [10] O Sohn des Höchsten, der Du einer der Irdischen werden wolltest, durch Dich möge mein Wort zur Höhe emporgehoben werden und Dich besingen! Du, unser Herr, bist das vernünftige, lebensvolle Wort und die große Rede, welche dem sie Anhörenden Reichtum verleiht. Jeder Redende redet nur durch Dich und wegen Deiner; denn Du bist das Wort und die Vernunft jedes Verstandes und Sinnes. Weder vermögen sich die Gedanken der Seele ohne Dich zu regen, noch kann die Zunge ein Wort hervorbringen außer durch Dich, noch können die Lippen anders als auf Deinen Befehl eine Stimme von sich geben, noch endlich ist das Ohr fähig zu hören außer durch Deine Gabe. [20] Siehe, Dein Reichtum wird unter die Entfernten wie unter die Nahestehenden verteilt, und Dein Tor ist geöffnet, damit Gute und Böse zu Dir eintreten mögen. Durch Dich wird alles bereichert, denn Du verleihst ohne Maß allen Geschöpfen Reichtum. So mögest Du denn auch mein Lied mit Deiner Schönheit bereichern, damit es Dich besinge!
O Sohn der Jungfrau, verleihe mir, von Deiner Mutter zu reden, obgleich ich bekenne, daß die Rede über sie ein allzu erhabener Gegenstand für uns ist! Eine Rede voll Staunen regt sich jetzt in meinem Innern, um zum Ausdruck zu kommen. O ihr Verständigen, höret mich liebevoll mit den Ohren der Seele an! Das Lob Marias erhebt sich wunderbar in mir, um zum Vorschein zu kommen. Bereitet also euere Herzen einsichtsvoll vor! [30] Die heilige Jungfrau hat mich heute berufen, um von ihr zu reden. Lasset uns also unser Gehör für einen so erhabenen Gegenstand geziemend vorbereiten, damit er nicht verunehrt werde!
Sie ist der zweite Himmel, in dessen Schoß der Herr der Himmelshöhen gewohnt hat und darauf erschienen ist, um die Finsternis aus allen Enden zu verscheuchen; die Gesegnete unter den Weibern, durch S. 287 welche der Fluch der Erde ausgetilgt worden ist, und von welcher an das Strafurteil sein Ende erreicht hat; die Keusche, Demütige und im Glanz der Heiligkeit Strahlende, von der zu reden mein Mund allzu gering ist; die Arme, welche zur Mutter des Königs geworden ist und der dürftigen Welt Reichtum geschenkt hat, damit diese dadurch Leben erlange; [40] das Schiff, welches die Schätze und Güter vom Hause des Vaters hertrug, um seinen Reichtum in unser verödetes Land auszuschütten; der gute Acker, welcher ohne Saat Getreidehaufen hervorbrachte, und welcher, obgleich unbearbeitet, eine reiche Ernte lieferte; die zweite Eva, welche unter den Sterblichen das Leben geboren und den Schuldbrief ihrer Mutter Eva eingelöst und vernichtet hat; das Kind, welches der niedergestreckten Ahnfrau die Hand reichte und sie wieder aufrichtete von dem Falle, in den sie die Schlange gestürzt hatte; die Tochter, welche ein Gewand der Glorie webte und es ihrem Vater gab, auf daß er sich damit wieder bedecke, nachdem er unter den Bäumen entblößt worden war; [50] die Jungfrau, welche auf wunderbare Weise ohne eheliche Gemeinschaft Mutter geworden ist; die Mutter, welche unverändert Jungfrau geblieben ist; die herrliche Burg, welche der König erbaute, bezog und bewohnte, und deren Tore nicht vor ihm geöffnet wurden, als er aus derselben auszog; die Magd, welche gleich jenem himmlischen Wagen den Allgewaltigen trug und hegte, durch den alle Kreaturen getragen werden; die Braut, welche empfing, ohne je den Bräutigam erblickt zu haben, und einen Sohn gebar, ohne den Wohnort seines Vaters gesehen zu haben. Wie könnte ich das Bild dieser wunderbaren Schönen mit gewöhnlichen Farben malen, da hierzu nicht einmal ihre kunstvollen Mischungen hinreichen würden? [60] Zu erhaben und herrlich ist das Bild ihrer Schönheit für meine Farbenmischungen, und nicht wage ich zu hoffen, daß mein Geist ein ihr ähnliches Gemälde entwerfen könne. Leichter ist es, den Glanz und die Glut der Sonne zu malen als einen Bericht über die Herrlichkeit Mariens vorzu- S. 288 tragen. Ein Strahlenrad ließe sich vielleicht in Farben darstellen, aber die Kunde von ihr kann von keinem Redner ganz erfaßt werden. Wenn dies jemand zu unternehmen wagt, in welcher Klasse soll er dann ihr Bild entwerfen, oder unter welche Schar soll er sie einreihen, um sie zu besingen? Unter die Jungfrauen, unter die heiligen und demütigen Frauen, oder unter die Gattinnen und Mütter? [70] Sehet, Jungfräulichkeit und Milch findet sich vereinigt bei der Preiswürdigen, vollkommene Geburt und versiegelter Schoß; wer vermag sie genügend zu loben? Während sie mir eben noch zur Schar der Mädchen zu gehören schien, sah ich, wie sie als Mutter ihrem Kinde Nahrung reichte. Kaum hörte ich, daß Joseph als ihr Gemahl bei ihr wohne, so bemerkte ich schon, daß sie der ehelichen Gemeinschaft entzogen ist. Eben wollte ich sie in die Reihe der Jungfrauen einordnen, da vernahm ich eine Stimme, daß die Beschwerden der Geburt sie betroffen haben1. Ich gedachte sie wegen Joseph eine Gattin zu nennen, da lehrte mich der Glaube, daß sie von keinem Sterblichen erkannt worden sei. [80] Ich erblickte sie, ihren Sohn tragend wie eine Mutter, und hinwiederum erschien sie mir in den Reihen der Jungfrauen stehend. Sie ist Jungfrau und doch Mutter, Gattin und doch unberührt; was kann ich noch über sie sagen, nachdem ich bereits gesagt habe, daß sie unbegreiflich ist? Die Liebe bewegt mich, über die Wunderbare zu reden; aber die Erhabenheit des Gegenstandes ist zu gewaltig für mich. Was soll ich also beginnen? Zuvor will ich vor aller Welt ausrufen, daß ich jetzt so wenig als jemals imstande bin, sie würdig zu preisen; alsdann aber will ich mich dennoch aus Liebe dazu wenden, das Lob der Er- S. 289 habenen zu verkünden. Nur die Liebe vermag, wenn sie redet, jedem Tadel zu entgehen; denn ihre Gedanken sind dem Hörer anmutig und bereichern ihn. [90]
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Hier, sowie an einigen anderen Stellen scheint Jakob die irrige Ansicht auszusprechen, daß Maria den Schmerzen der Geburt unterworfen gewesen sei. Hiermit würde seine spätere Aeußerung, wonach der Heilige Geist Maria von dem Fluche und den Schmerzen Evas befreit habe, in Widerspruch stehen. Jedenfalls ist die schmerzlose Geburt Marias eine notwendige Folge aus ihrer in partu unverletzt gebliebenen Jungfräulichkeit, zu deren Verteidigung Jakob von Sarug ein eigenes Gedicht verfaßt hat. Vergl. Abbeloos a. a. O. S. 196. ↩