Einleitung
S. 287 In der venezianischen Gesamtausgabe der Werke des Elische steht an erster Linie, unmittelbar auf die Geschichte des wardanischen Krieges folgend, die nachstehende Mahnung als Werk des Bischofs und Einsiedlers. Der Begriff Einsiedler ist nicht im strengsten Sinn als eines in vollkommener Einsamkeit lebenden Mannes, sondern im Sinn eines von der Anteilnahme am Weltleben ausgeschiedenen, ehelos dem Heil seiner Seele lebenden Mannes zu nehmen, ähnlich der weiteren Bedeutung des Wortes Mönch oder Anachoreten.
Der Aufbau der Mahnung charakterisiert sie als eine Rede. Im Anfang zwar könnte der Leser glauben, daß er es nur mit einer Schilderung des Mönchslebens zu tun habe. Denn mit breiter epischer Anschaulichkeit ergeht sich der Verfasser in der äußeren Beschreibung der Lebensweise und Tätigkeit der Anachoreten. Ja, am Schluß scheint die Erinnerung an das „Schreiben“ auf eine schriftliche Abhandlung hinzudeuten, wenn dies Wort nicht aus dem Faktum der Niederschrift zu erklären ist. Aber bald erhebt sich die Darstellung deutlich zu rhetorischer Gestaltung. Die Wendung: „Wenn du vom Essen hörst“, (2) könnte wohl bloße stilische Figur sein. Unzweifelhaft rhetorisches Merkmal sind aber die Anrede (5): „Da wir nun all das wissen, o Bruder,“ ebenso „o Brüder“ (8), „wir o Anachoreten“ (8), „Wohlan denn“ (8), „Gehen auch wir“ (8), „Und wenn du folgst“ (9); die Imperative: „Wolle“, „hasse“, „liebe“, die anschließende persönliche Aussprache und die in kommunikativem Plural der ersten Person gegebene Sittenschilderung aus der Gegenwart des Verfassers (6). Zu ganz kunstvoller rhetorischer Form erhebt sich die Rede S. 288 in den scharfen Antithesen, in welchen die Sittenschilderung des Verfassers das Soll und Haben der Moral des zeitgenössischen Lebens unter seinem Volke bucht (6). In der anschließenden Schilderung der über dies gekommenen Heimsuchungen verbindet er mit der Kunst des Stiles das voll rhetorische Pathos seelischer Ergriffenheit. Daher hat man es bei diesen Mahnworten mit einer wirklichen Ansprache zu tun, einer Probe der geistlichen Rede in der altarmenischen Kirche.
Was für ein Publikum ist aber als Zuhörerkreis des Redners zu denken?
Wer beachtet, mit welchem Nachdruck der Verzicht auf weltliche Bestrebungen und weltlichen Besitz gefordert wird, in einem Maße, wie es damals so wenig als heute von den Christen allgemein verlangt werden konnte, wird geneigt sein, einen Mönchskreis als Zuhörerschaft anzunehmen. Vielleicht werden ihm für diese Annahme entscheidend dünken die direkten Anreden an die Mönche (5. 8), die entschiedene Aufforderung zur Nachfolge der Vorbilder monachischen Lebens im vollen Maße (5. 9), ebenso die Verheißung, welche die Übernahme dieser Lebensform zur Erfüllung ihrer Bedingung nimmt, die als Lebensform der heiligen Väter im ersten Teil geschildert wurde.
Doch gibt es gegen diese Annahme Einwände, welche wohl zu beachten sind. In die Sittenschilderung finden sich Rügen eingestreut, die wohl bei Angehörigen der Weltpriesterschaft, nicht aber schlechtweg bei Anachoreten am Platz sind (6). Mit Recht wird man ferner darauf hinweisen müssen, daß die ausführliche Schilderung des Anachoretenlebens vor einer Mönchsgemeinde eine überflüssige Sache wäre. Die Wahrnehmung (2): „wenn du vom Essen hörst, so schweife nicht auf das unsrige ab“, wird in der Auffassung bestärken, daß nicht Mönche, sondern Christen im allgemeinen als Zuhörer zu denken sind. Gleiches tut die Aufforderung (5), den Einsiedlern ähnlich zu werden.
Wie ist diese Zwiespältigkeit in der Berücksichtigung des Zuhörerkreises zu erklären?
S. 289 Gezwungen scheint mir der Versuch, die Zwiespältigkeit dadurch zu versöhnen, daß man annimmt, die Rede sei vor Anfängern im Mönchtum gehalten und diene der Absicht, vorhandene Begeisterung durch den Hinweis auf die leuchtenden Vorbilder zu bestärken und zur Treue gegen das Mönchsideal anzufeuern durch die Schilderung des sittlichen Niedergangs im Volke und der Heimsuchungen, mit welchen Gott diesen Niedergang gestraft hat. Lockeres Weltleben konnte gewiß ein Anreiz für Mönche sein, ihren Pflichten untreu zu werden und ihre hohen Bestrebungen als minder notwendig erscheinen zu lassen. In diesem Falle wäre die Erklärung, wie sündhaft dieses Leben ist, und wie schwer Gott es bestraft hat, gewiß ein gutes Mittel, in der aszetischen Treue zu befestigen. Allein in der Rede werden jene, deren sittliches Leben als Verirrung und eitle, unchristliche Weltlichkeit getadelt wird, selbst als gegenwärtig gedacht, und diese Weltlichkeit erscheint sogar als der herrschende Zug. Das kann aber nicht der Zustand junger Anhänger des monachischen Lebens gewesen sein.
Daher scheint mir ein anderer Versuch, diese Zwiespältigkeit zu versöhnen, vorteilhafter zu sein. Die Rede ist als eine Empfehlung des Mönchslebens zu denken vor Laienchristen, welche gegen dasselbe gestimmt waren und eine Apologie des Mönchtums nötig machten. Diese leistet der Verfasser durch eine Schilderung des uneigennützigen, armen Lebens in der Mönchsgemeinde, welche jeden Neid und jede mißgünstige Anklage verstummen machen muß, und durch den Hinweis, wie das Mönchsleben die folgerichtige Durchführung des Geistes Christi ist, der feindliche Weltgeist aber im Widerspruch zum Geist Christi steht und daher in den Heimsuchungen der Zeit eine göttliche Strafe erfahren mußte. Die direkten Anreden an die Mönche erklären sich daraus, daß auch eine Anzahl Mönche gegenwärtig waren. Sie können aber auch teilweise rednerische Figur sein. Mit ihnen vergegenwärtigt der Sprecher die Mönche seinem Publikum und verkündigt pathetisch das Recht und die hohe Aufgabe des Mönchtums in der christlichen S. 290 Kirche. Die Aufforderungen zur Nachfolge gelten dann nicht jungen oder in ihrer Haltung gefährdeten Mönchen, sondern teils dem Publikum, aus dessen Vertretern der Redner siegesbewußt die Berufenen zum Eintritt ins Mönchtum auffordert, teils den Mönchen als solchen, die sich berechtigt wissen sollen, auch in der Gegenwart ihrem Ideal unentwegt nachzustreben.
Somit zerfällt die Rede in zwei Hauptteile: 1. Die Schilderung des Mönchslebens, seiner Schönheit, Anspruchslosigkeit, Nützlichkeit und religiösen Berechtigung. 2. Die Unchristlichkeit des Lebens, das von den Idealen des Mönchtums sich abgewandt hat, aber auch die Strafe Gottes trägt, so daß sich der Schluß ergibt, nicht Ablassen von diesem hohen Zug der Frömmigkeit ist die Forderung der Zeit, sondern Hingabe an den Geist, der im Mönchtum lebt und wahre Befolgung des Geistes Christi ist und zur Verjüngung des christlichen Geistes im Volke führt.
Über den Verfasser ist der Homilie selbst wenig zu entnehmen. Es findet sich aber auch nichts, was der Zueignung an Elische widerspricht. Nach 9 zu schließen, ist der Verfasser selbst dem Anachoretenleben ergeben oder vor der Erhebung zum Bischof ergeben gewesen. Die Rüge über den sittlichen Niedergang scheint in die Zeit Sahaks und Mesrops nicht zu passen. Allein der wissenschaftliche und liturgische Aufschwung zur Zeit dieser Männer schließt einen sittlichen Niedergang im Lande nicht aus, zumal in der Zeit wenig erleuchteter Fürsten und der persischen Herrschaft. Die Schilderung der Heimsuchungen, welche Gott über das Land kommen ließ, paßt vortrefflich in die Zeit des Elische und in die Zeit nach dem wardanischen Krieg. Und zwar wird man die frühere Zeit als Zeit der Reden ansehen müssen, da die Klagen so lebhaft sind und die Wunden, von denen er spricht, so frisch erscheinen. So wird man die Zeit um 455 als die Zeit der Abfassung ansehen dürfen. Die Kunst der Komposition und die lebhafte, pathetische Schilderung erinnert an Elische im wardanischen Krieg, so sehr zu beachten ist, daß man es dort mit einer Erzählung, hier mit einer Rede zu tun hat.