2.
Da nun die Seele von dieser Woge hin- und hergeworfen wird, wie ist es möglich, daß die Rede gerade vorwärts dringe, da sie von der Leidenschaft des Schmerzes wie von einem Windstoß bestürmt wird? Aber da ich seinem Befehle gehorchen muß, so weiß ich nicht, wie ich meine Rede einrichten soll. Denn ich vermag die Absicht des Lehrers nicht zu errathen. Will er vielleicht auch gegen den Schmerz sich in etwas nachgiebig zeigen, und durch pathetische Reden in der Kirche zu Thränen rühren? Wenn er dieß beabsichtigt, so thut er nach meinem Dafürhalten darin Recht. Denn wir müssen nothwendig, wie wir den Genuß des Guten erstreben, so auch mit den betrübenden Zufällen uns vertraut machen. Dieß räth ja auch der Prediger und sagt: „Es ist eine Zeit zum Lachen und eine Zeit zum Weinen.“1 Daraus nun lernen wir, daß wir unsere Seelenstimmung der jeweiligen Lage anpassen müssen. Gehen die Dinge glücklich von Statten? Dann ist es an der Zeit, sich zu freuen. Hat das Erfreuliche sich in Trauer umgewandelt? Dann muß man aus der Heiterkeit zu Thränen übergehen. Denn wie das Lachen ein Zeichen der inneren Freude ist, so wird auch der Schmerz des Herzens durch die Thränen ausgedrückt, und die Thräne ist gleichsam das Blut der Seelenwunden. Das sagt das Sprichwort Salomos: „Wenn das Herz sich erfreut, blüht das Angesicht, wenn aber die Seele trauert, ist es düster.“2 Wir müssen also nothwendig der Seelenstimmung entsprechend auch unserer Rede einen düsteren Ausdruck geben. Und wenn es nur möglich wäre, solche Worte zu finden, in denen einst der große Jeremias das Unglück der S. 586 Israeliten beweinte. Denn die gegenwärtige Lage verdient es mehr als jene, oder wenn sonst aus der alten Zeit etwas Trauriges erwähnt wird. Schlimmes wird von Job erzählt. Aber wie soll man mit unserm Unglück die leicht aufzuzählenden Leiden eines einzigen Hauses in Vergleich setzen? Und wenn man die gewöhnlichen großen Unfälle durchgeht, Erdbeben und Kriege, Überschwemmungen und Öffnungen der Erde, so ist auch das gering, wenn man es mit der gegenwärtigen Lage vergleicht. Warum? Weil das Kriegsunglück den ganzen Erdkreis nicht auf einmal erfaßt, sondern der eine Theil davon mit Krieg überzogen ist, der andere in Frieden lebt. Was weiter? Oder ein Blitzstrahl schlägt ein oder das Wasser macht eine Überschwemmung oder ein Erdschlund hat sich geöffnet. Das gegenwärtige Unglück aber ist ein Schlag für den ganzen Erdkreis zugleich. Nicht einem Volksstamm oder einer Stadt kommt es zu, zu klagen, sondern es geziemt sich wohl, in die Worte des Nabuchodonosor auszubrechen, die er an seine Untergebenen gerichtet hat: „Zu euch spreche ich, Volk, Zünfte, Zungen.“3 Oder gestattet mir vielmehr, dem assyrischen Ausspruch Etwas beizufügen, das Unglück mit größerem Wortreichthum zu verkünden und zu sagen, wie Einer auf der Bühne ausrufen und sagen würde: O Städte und Völker und Nationen und ganze Erde und Alles, was als Meer beschifft und (als Festland) bewohnt wird, Alles, was von unserm ganzen Länderkreise vom kaiserlichen Scepter beherrscht wird, o ihr Menschen insgesammt von allen Seiten, beseufzet gemeinsam den Trauerfall, stimmet gemeinsam in die Trauerklage ein, beweinet gemeinsam den Verlust Aller! Oder wollt ihr, daß ich euch, soweit ich es vermag, den Verlust schildere?
Es brachte in unserem Zeitalter die menschliche Natur, ihre eigenen Grenzen überschreitend und über das gewohnte S. 587 Maß hinausgehend, oder vielmehr der Herr der Natur eine menschliche Seele in einem weiblichen Leibe hervor, erhabener fast als alle früheren Beispiele der Tugend. In ihr vereinigte sich jeder Vorzug des Leibes und der Seele, und sie bot dem menschlichen Leben ein unglaubliches Wunder dar, wie viele Güter sie mit einer Seele in einem Leibe vereinigt zu umfassen vermochte. Und damit das Glück unserer Zeit Allen möglichst in die Augen fiele, wird sie auf den erhabenen Thron des Kaiserreiches erhoben, damit sie wie die Sonne von ihrer hohen Stellung aus die ganze Erde mit den Strahlen ihrer Tugenden beleuchte, und indem sie mit Dem, welcher durch göttlichen Rathschluß über die ganze Erde gesetzt ist, zur Gemeinschaft des Lebens und der Herrschaft sich verband, beglückte sie durch ihren Einfluß die Untergebenen, indem sie in Wahrheit ihnen, wie die Schrift sagt, zu allem Guten behilflich war.4 Wenn Mildthätigkeit am Platze war, so stand sie ihm entweder in dieser Tugend zur Seite oder eilte ihm auch voraus. Die Mildthätigkeit hielt sich auf beiden Seiten in der Wage das Gleichgewicht. Es gibt aber für unsere Ansicht Zeugniß sowohl Unzähliges aus früherer Zeit als auch was gegenwärtig verkündet wurde, was wir jetzt vom Verkünder der Wahrheit vernommen haben. Wenn du dich um die gottesfürchtige Richtung umsiehst, so war der Wettlauf in der Gottesfurcht Beiden gemeinsam, oder siehst du dich um die Klugheit oder Gerechtigkeit um, oder sonst um Etwas, was man als Tugend schätzt, so war Alles ein Gegenstand des Wetteifers, indem sie sich gegenseitig in guten Thaten zu besiegen strebten, und kein Theil unterlag. Ziemlich gleich war die gegenseitige Zuneigung beider Theile. Sie fand den Lohn ihrer Tugend im Herrscher der Erde, er achtete die Macht über Erde und Meer für gering im Vergleich mit dem Glücke, das ihr Besitz ihm gewährte. Gleiche Freude bereiteten sie sich gegenseitig, indem sie auf S. 588 einander schauten und von einander gesehen wurden, er so beschaffen, wie er ist (denn welche Schönheit könnte man noch darstellen, die jener überlegen wäre, die sich an ihm zeigt? möchte ihr Anblick zum Leben der Enkel hinabreichen!) sie aber, wie sie war, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Denn es hat die Kunst von ihr kein genaues Bild hinterlassen, und wenn ein solches auch in Gemälden oder Statuen vorhanden ist, so bleiben sie alle hinter der Wahrheit zurück.
Das ist meine Schilderung, und bis hieher reicht sie. Was soll ich weiter thun? Ich muß wieder ein Klagegeschrei erheben. Und verzeihet mir, wenn ich wegen des Trauerfalls ein übermäßiges Klagegeschrei erhebe. O Thracien, hassenswerther Name! O unglückliches Land und Volk, durch Unglücksfälle bekannt geworden, das du zuerst bei den Einfällen der Barbaren mit feindlichem Feuer verheert wurdest, jetzt aber vom Gipfel des gemeinsamen Unglücks heimgesucht worden bist! Von da wird der Schatz geraubt, hier hat das neidische Schicksal gegen die Kaiserin gewüthet, hier ist der Schiffbruch des Erdkreises eingetreten, hier sind wir wie bei einem Sturme an einer Klippe gescheitert und in den Abgrund der Trauer gesunken. O der unglücklichen Reise, bei der die Rückkehr abgeschnitten war! O der bitteren Gewässer, nach deren Quellen sie sich sehnte, wie sie es besser vermieden hätte! O Land, welches das Unglück sah, das wegen des Unglücks von der finsteren Nacht benannt ist. Denn ich höre, daß der Ort in ihrer Muttersprache Skotumis heisse. Dort hüllte sich das Gestirn in Finsterniß,5 dort erlosch das Licht, dort verdunkelten sich die Lichtstrahlen der Tugenden. Hingeschwunden ist die Zierde des Kaiserreichs, das Steuerruder der Gerechtigkeit, S. 589 das Bild der Mildthätigkeit oder vielmehr das Urbild selbst. Hingerafft ist das Vorbild der Gattenliebe, das heilige Weihgeschenk der Züchtigkeit, die leutselige Hoheit, die Achtung gebietende Sanftmuth, die erhabene Demuth, die ungezwungene Sittsamkeit, der schönste Einklang aller Tugenden. Hingeschwunden ist der Eifer im Glauben, die Säule der Kirche, die Zierde der Altäre, der Reichthum der Armen, die vielgeschäftige Rechte, der gemeinsame Hafen der Bedrängten. Trauern sollen die Jungfrauen, weinen die Wittwen, jammern die Waisen. Sie mögen erkennen, was sie hatten, da sie es nicht mehr haben. Doch was soll ich im Einzelnen und hintereinander zum Weinen auffordern? Jammern soll das ganze Geschlecht und tief aus dem innersten Herzen den Jammerruf emporsenden. Mittrauern soll auch die Priesterschaar, weil das neidische Schicksal den gemeinsamen Schmuck uns geraubt hat. Ist es etwa zu kühn, das Wort des Propheten auszusprechen: „Warum hast du mich verstoßen, o Gott, vollends, und es entbrannte dein Zorn gegen die Schafe deiner Heerde?“6 Für welche Sünden müssen wir büßen? Weßhalb werden wir mit ununterbrochenen Unfällen gezüchtigt? Oder ist vielleicht wegen Überhandnahme der mannigfaltigen Häresien dieses Gericht über uns ergangen? Denn ihr sehet, in welche Leiden wir in kurzer Zeit gestürzt sind? Noch hatten wir uns vom ersten Schlage nicht erholt, noch die Thränen unserer Augen nicht abgetrocknet, und schon wieder ist ein so großes Unglück über uns gekommen. Damals beweinten wir die neu aufgesprossene Blume, jetzt das Reis selbst, aus dem die Blume hervorsproß, damals die gehoffte Schönheit, jetzt die entwickelte, damals das in Aussicht gestellte, jetzt das durch die Erfahrung erkannte Gut. Werdet ihr mir verzeihen, Brüder, wenn ich im Schmerze etwas Albernes rede? Vielleicht hat auch die Schöpfung selbst, wie der Apostel sagt, in den Jammerruf über unser Unglück S. 590 eingestimmt.7 Ich will euch erinnern an Das, was geschehen ist, und ich glaube, daß Viele meinen Worten beistimmen werden. Als die Kaiserin in Gold und Purpur gehüllt nach der Stadt getragen wurde, ― auf einer Sänfte trug man sie, ― und als Menschen aus allen Ständen und Lebensaltern zur Stadt hinausstürzten und sich massenhaft herbeidrängten, indem Alle, auch hohe Würdenträger, dem Trauerzuge sich zu Fuß anschloßen, da erinnert ihr euch gewiß, wie die Sonne ihre Strahlen hinter den Wolken verbarg, damit sie nicht etwa mit ihrem reinen Lichte die Kaiserin in solchem Aufzuge zur Stadt kommen sähe, nicht auf einem Wagen oder goldbeschlagenen Gefährte im kaiserlichen Schmucke mit einer Ehrenleibwache, sondern eingehüllt in einem Sarge, jenes Antlitz in einen düsteren Schleier gehüllt, ein schrecklicher und jammervoller Anblick, ein Gegenstand der Thränen, der sich den Herbeikommenden darbot, den alle Versammelten, der Ausländer und der Einheimische, bei jenem Einzuge nicht mit Glückwünschen, sondern mit Thränen begrüßten. Damals nahm auch der Himmel finstere Trauer an und hüllte sich in Finsterniß, wie in ein Trauerkleid. Auch die Wolken weinten, so weit es ihnen möglich war, und vergoßen weiche Tropfen statt der Thränen über den Unfall. Ist das etwa leeres Gerede und nicht einmal der Rede werth? Aber wenn auch so Etwas in der Schöpfung eingetreten ist, um das Unglück anzuzeigen, so ist es durchaus nicht durch die Schöpfung geschehen, sondern durch den Herrn der Schöpfung, der durch seine Geschöpfe den Tod der heiligen Frau in Ehren hielt. Denn kostbar, heißt es, ist vor dem Herrn der Tod seiner Heiligen.8 Ich sah damals ein anderes Schauspiel, auffallender als die angeführten, ich sah einen doppelten Regen, den einen aus der Luft, den andern, welcher von den Thränen auf die Erde strömte, und der Regen aus den Augen war nicht schwächer als der aus den Wolken. Denn unter S. 591 so vielen Tausenden von Anwesenden fand sich kein Auge, das die Erde nicht mit den Tropfen der Thränen befeuchtete.