Einleitung
S. 157 Der Brief Polykarps an die Philipper wurde schon oben erwähnt als der wichtigste Zeuge für die Echtheit der Briefe des Ignatius von Antiochien. Über das Leben und den Tod Polykarps sind wir verhältnismäßig gut unterrichtet. Zwar verdient die aus dem vierten Jahrhundert stammende vita s. Polykarpi des Pionius 1 wegen ihrer Widersprüche mit verbürgten Nachrichten keinen Glauben. Dafür hat uns Eusebius 2 den Brief des Irenäus an Florinus erhalten mit wichtigen Angaben über Polykarp. Florinus war einst mit Irenäus Schüler des Bischofs von Smyrna, und als jener später zum Gnostizismus übergetreten war, suchte ihn Irenäus durch die persönliche Erinnerung an den gemeinsamen Lehrer, zu dessen Füßen sie in Asien gesessen, zum rechten Glauben zurückzuführen. Er schreibt: „Ich könnte dir doch den Ort angeben, wo der selige Polykarp saß und lehrte und sein Ein- und Ausgehen und sein ganzes Verhalten und sein Aussehen und die Vorträge, welche er an das Volk richtete und wie er von seinem Verkehre mit Johannes erzählte und mit den anderen, welche den Herrn gesehen hatten, und wie er deren Worte anführte und was er von ihnen über den Herrn und seine Wundertaten und seine Lehre gehört hatte.“ Da Irenäus an einer anderen Stelle 3 Polykarp von den Aposteln unterrichtet sein läßt, Tertullian 4 und Hieronymus 5 berichten, er sei von dem Apostel S. 158 Johannes, Eusebius6, er sei durch die Apostel zum Bischof von Smyrna bestellt worden, so kann kein Zweifel bestehen, daß Irenäus in seinem Brief an Florinus den Apostel Johannes als Lehrer Polykarps ennt. Für das ruhmreiche Leensende bieten die echten, auf Augenzeugen zurückgehenden Märtyrerakten7, ein Schreiben der Kirche von Smyrna an die Gemeinde von Philomelium und an die gesamte Christenheit, wert volle Angaben. In der Kirchengeschichte ist Polykarp bekannt durch seinen Aufenthalt in Rom (wohl Anfang des Jahres 155) und seine Verhandlungen, die er daselbst mit Papst Anizet (154/55 – 166/67) über mehrere strittige Punkte und vor allem über den Tag der Osterfeier führte 8 . Polykarp beharrte auf der morgenländischen Praxis, Ostern am 14. Nissan selbst, Anizet auf der abendländischen, das Fest am darauffolgenden Sonntag zu feiern. Aber trotz dieser Differenzen kam es zu keinem persönlichen Zwist, vielmehr ehrte Anizet seinen Kollegen dadurch, daß er ihm die Feier der Eucharistie in der römischen Kirche gestattete. Irenäus 9 berichtet von einer erfolgreichen Tätigkeit Polykarps in Rom gegen Valentinianer und Marcioniten, und bei einer Begegnung mit Marcion habe er diesen den Erstgeborenen Satans 10 genannt. Daß sein Eifer für die wahre Kirche, von dem sein Brief Zeugnis gibt, von Erfolg gekrönt war, können wir den Worten seiner Gegner, Heiden und Juden von Smyrna, entnehmen, die in entfesseltem Zorne Polykarp vor die Löwen forderten mit den Worten: „Dies ist der Lehrer Asiens, der Vater der Christen, der Zerstörer der Götter, der viele lehrt, nicht zu opfern und nicht anzubeten“ 11.
Er starb wohl im Alter von 86 Jahren zu Smyrna S. 159 den Martertod; denn die Worte, mit denen er die Aufforderung, Christus zu lästern, beantwortete: „Sechsundachtzig Jahre diene ich ihm. Und er hat mir nie etwas zuleid getan; und wie kann ich meinen König lästern, der mich erlöst hat“ 12, sind von seinem Lebensalter zu verstehen, da die Worte des Irenäus 13 5 ὑπὸ τῶν ἀποστόλων μαθητευθείς zunächst nur heißen: von den Aposteln unterrichtet, nicht bekehrt, und die Worte Polykarps 14 : „wir kannten damals (zur Zeit, da Paulus seinen Brief an die Philipper schrieb, d.h. im Jahre 63) 15 Gott noch nicht“ zugleich im Namen der Presbyter der Gemeinde von Smyrna gesprochen sein können, selbst wenn Polykarp damals noch nicht unter den Lebenden war. Wollte man aber die Worte, er diene sechsundachtzig Jahre Christus, so verstehen, daß seiner Bekehrung eine heidnische Jungendzeit vorangegangen wäre, so müßten wir mit einem Alter von etwa hundert Jahren rechnen. Die Strapazen, die seiner Hinrichtung vorangingen und die er mit männlichem Starkmut tru, lassen nicht auf einen hundertjährigen Greis schließen. Er hatte sich nämlich auf das Drängen seiner Freunde hin auf ein bei Smyrna gelegenes Landhaus geflüchtet; als er dort von den Häschern, denen er nochmals hätte entweichen können, entdeckt war, erbat er sich eine Stunde Frist zum Beten und ließ, während er dem Gebete oblag, die Häscher bewirten. Auf dem Wege zur Stadt wurde er vom Wagen gestoßen, brach ein Schienbein, und trotzdem ging er, getrost und rasch, als ob nicht geschehen wäre zum Verhöre ins Stadium, wo das Volk wegen der Tierkämpfe versammelt war. Da diese aber schon beendigt waren, konnte das Verlangen des Volkes, daß ein Löwe auf ihn gehetzt würde, nicht erfüllt werden; vielmehr wurde er für sein standhaftes Bekenntnis zum Feuertode verurteilt. Eilends holte das Volk Holz zu einem Scheiterhaufen; da aber der Wind die Flamme von ihm abkehrte, wurde er durch einen S. 160 Dolchstoß getötet 16. Dies ist geschehen entweder am 22. Februar 156 oder am 23. Februar 155 17.
Von diesem seeleneifrigen Bischof, ehrwürdigen Apostelschüler und standhaften Märtyrer werden einige zweifelhafte und unechte Schriften 18 genannt; Irenäus redet im Briefe an Florinus 19 von mehreren Briefen, die Polykarp an benachbarte Gemeinden und einzelne Christen geschrieben habe, an anderer Stelle 20 erwähnt er „einen sehr tüchtigen Brief des Polykarp an die Philipper“. Auch Eusebius 21 kennt diesen Brief und führt zwei grössere Stellen aus demselben an, ebenso Hieronymus 22 , der bemerkt, dass der Brief beim Gottesdienst in Asien vorgelesen wurde.
Ignatius war auf seinem Weg nach Rom auch zu Philippi in Mazedonien gewesen und hatte auch diese Gemeinde aufgefordert, seiner Kirche zu Antiochien Glück zu wünschen zur Beendigung der Verfolgung. Die Philipper baten nun Polykarp, er möge ihr Glückwunschschreiben nach Antiochien weitergeben und ihnen zugleich, was er an Ignatiusbriefen besitze, zustellen. Indem Polykarp sich des letzteren Auftrags entledigte, nahm er Anlass, auch an die Gemeinde von Philippi einen Brief zu richten. Er drückte darin zunächst seine Freude aus über die Gastfreundschaft, die Ignatius und seine Gefährten in Philippi gefunden, sowie über den starken Glauben der Gemeinde, den einst Paulus durch seine Predigt begründet habe und immer noch durch seinen Brief an die Philipper bewahre; es folgen allgemeine Ermahnungen (c. 1-3). Dann wendet sich der Bischof an die einzelnen Stände, an die Frauen und Witwen, Diakonen, Jünglinge, Jungfrauen, Presbyter (c. 4-6), dann warnt er vor den Irrlehren (c. 7-19) und beklagt endlich den Fall eines Presbyters namens S. 161 Valens, der sich durch Geldgier seines Amtes unwürdig gezeigt hatte. Er mahnt zum Gebet, verspricht, die Bitten der Philipper zu erfüllen, bittet um Nachricht über Ignatius und seine Gefährten, sendet Empfehlungen und Grüsse (c.12-14).
Danach war zur Zeit der Abfassung des Briefes noch keine Nachricht über den Tod des Ignatius in Smyrna eingetroffen, wenn auch das Martyrium als vollzogen vorausgesetzt wird 23. Der Brief ist reichlich geschmückt durch Stellen aus dem Alten, besonders aber aus dem Neuen Testament (Evangelien, Apostelgeschichte, Paulusbriefe, Jakobusbrief, I. Petrusbrief, Johannesbriefe) 24. Dadurch ist er von Bedeutung für die Geschichte des neutestamentlichen Kanons. Als Vorbild benützte Polykarp den Brief des römischen Klemens an die Gemeinde von Korinth, von dem er sich durchweg abhängig zeigt 25 3.
Trotz der einwandfreien Bezeugung des Briefes durch Irenäus wurde von den einen die Echtheit, von den anderen die Unversehrtheit des Briefes angezweifelt. Dies geschah von den Gegnern der Echtheit der Ignatiusbriefe. Denn wer die Ignatiusbriefe als Fälschung betrachtet, muss auch ihren Kronzeugen, den Polykarpbrief an die Philipper, verwerfen, sei es, dass er als Fälschung zur Einführung jener Briefreihe ausgegeben oder wenigstens in den auf die Ignatiusbriefe bezüglichen Stellen als interpoliert erklärt wird. Gegen die erste Annahme spricht vor allem der Umstand, da die einfache, schlichte Redeweise von Polykarps praktischem Mahnschreiben grundverschieden ist von der pathetischen Sprache der Ignatiusbriefe. Dann dürfte es schwer fallen, den Philipperbrief als Vorrede zu eine Schriftsammlung, die sich die Einführung des monarchischen Episkopats zum Zwecke gesetzt habe, darzutun, da derselbe wohl zum Gehorsam gegen die Presbyter und Diakonen auffordert (c. 5,3), aber nirgends den S. 162 xxx nennt. Auch an eine Interpolation ist im Ernst nicht zu denken wegen der durchgreifenden Einheit des Stiles und wegen der gleichmäigen Abhängigkeit von dem Klemensbrief. Harnack 26 sagt: „Würde man nicht die Ignatiusbriefe für unecht halten, so würde es niemand einfallen, in dem Polykarpbriefe nach Interpolationen zu fahnden.“ Auch O. Stählin 27 sagt: Die Zweifel an der Echtheit und die Annahme von Interpolationen sind „nur durch die irrige Anschauung von der Unechtheit der Ignatiusbriefe begründet“. Zudem müten an dem Zeugnis des Irenäus alle Bedenken scheitern.
Während wir also über den Verfasser und den Brief selbst gut unterrichtet sind, ist die Textüberlieferung des Briefes nicht gut. Es sind zwar acht, meist jüngere griechische Handschriften vorhanden; aber sie stammen alle von demselben lückenhaften Archetypus her und bringen den Text nur bis c. 9,2. Von dem fehlenden Stück hat Eusebius 28 die wichtigen, auf die Ignatiusbriefe bezüglichen Kapitel 9 und 13 in griechischem Text aufbewahrt, der Rest musste aus einer mangelhaften lateinischen Übersetzung ins Griechische übertragen werden. Der lateinische Text wurde zuerst 1498 zu Paris von J. Faber Stapulensis, der griechische Text der Kapitel 1-9 von P. Halloix, Douai 1633, herausgegeben 29.
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Funk, Patres apost. II (2. Aufl.) (1901), LVI - LXI und 291-336. ↩
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Hist. eccl. V 20,6. ↩
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Adv. haer. III 3,4: 5 ὑπὸ τῶν ἀποστόλων μαθητευθείς ↩
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De praescr. haer. c. 32. ↩
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De vir. ill. c. 17. ↩
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Hist. eccl. III 36,1. ↩
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Martyrium s. Polycarpi; Funk, Patres apsot. I (2. Aufl.) (1901) XCIX – CVI und 314-345. ↩
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Euseb., Hist. eccl. V 24,16; IV 14,1; Hieronymus, De vir. ill. c. 17. ↩
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Adv. haer. III 3,4. ↩
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Vgl. Polyc. ad Philipp. 7,1. ↩
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Martyr. Polyc. c. 12,2. ↩
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Martyr. Polyc. 9,3. ↩
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Adv. haer. III 3,4. ↩
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Epist. ad Phil. 11,3. ↩
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Belser, Einleitung in das Neue Testament 1901, 570. ↩
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Martyr. Polyc. c. 5.7.8.10ff.16. ↩
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Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Lit. I (2. Aufl.) 162; Funk, Patres apost. I (2. Aufl.) LXXXVIII. ↩
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Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Lit. I (2. Aufl.) 168-170 ↩
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Bei Euseb., Hist. eccl. V 20, 8 ↩
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Adv. haer. III 3,4. ↩
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Hist. eccl. III 36,13-15. ↩
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De vir. ill. c. 17. ↩
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Epist. ad Philipp. 9,2. ↩
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Im einzelnen siehe Funk, Patres apsot. I (2. Aufl.) (1901) 647.648. ↩
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Vergl.: c. 1,2 mit 1Klem. 1,2; c. 2,1 mit 1Klem. 19,1; c. 2,2 mit 1Klem. 21,1; 35,5; c. 2,3 mit 1Klem. 13,1.2; c. 4,1 mit 1Klem. 1,3; c. 7,2 mit 1Klem 19,2 u. mehr. ↩
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Gesch. d. altchistl. Lit. II (1. Aufl.) 348; s. Bardenhewer, Gesch. d. altkirchl. Lit I (2.Aufl.) 166.167. ↩
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in W. Christ`s Gesch. d. griech. Lit. (5. Auflage) II,2 S. 977 ↩
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Hist. eccl. III 36,13-15. ↩
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Funk, Patres apsot. I (2. Aufl.) 1901 XCVI ff.; Bardenhewer, Gesch. der altkirch. Lit I (2. Aufl.) 167f. ↩