80.
1. Tryphon entgegnete hierauf: „Mein Herr, ich habe dir erklärt, du bemühst dich stets, sichere Wege zu gehen, wenn du es mit der Schrift zu tun hast. Sage mir aber: behauptet ihr wirklich, daß unsere Stadt Jerusalem wieder aufgebaut werden wird, und erwartet S. 132 ihr, daß euer Volk in Freude bei Christus zusammenkommen wird zugleich mit den Patriarchen und Propheten und unseren Volksgenossen oder auch denen, welche vor Ankunft eures Christus Proselyten geworden sind1. Oder hast du dich auf diese Erklärung (von Is. 8,4) eingelassen, um den Schein zu erwecken, als wärest du in der Disputation (über Is. 7,14) uns völlig überlegen?“
2. Ich antwortete: „Tryphon, ich bin nicht so erbärmlich, daß ich anders rede, als ich denke. Ich habe nun auch schon früher dir erklärt, daß noch viele andere mit mir diese Anschauung haben; uns ist es also ganz gewiß, daß die Zukunft sich so gestalten wird. Daß aber andererseits auch unter den Christen der reinen und frommen Richtung viele diese Anschauung nicht S. 133 teilen, habe ich dir angedeutet2. 3. Denn - so habe ich dir kundgetan3 - diejenigen, welche von den Christen nur den Namen haben und gottlose, ungerechte Häretiker sind, tragen stets blasphemische, gottlose und unsinnige Lehren vor. Damit ihr aber wisset, daß ich nicht bloß vor euch so rede, werde ich, so gut wie möglich, eine Zusammenstellung aller Worte, welche ich gesprochen habe, geben; was ich vor euch sage, dasselbe werde ich in einer Schrift niederlegen. Denn nicht entscheide ich mich für Menschen oder menschliche Lehren, sondern für Gott und seine Lehren. 4. Wenn ihr zusammenkommen solltet mit solchen, welche sich Christen nennen und obige Anschauung nicht teilen, welche dazu aber noch sich erkühnen, den Gott Abrahams, den Gott Isaaks und den Gott Jakobs zu lästern, und ferner behaupten, es gäbe keine Auferstehung der Toten, sondern ihre Seelen würden schon beim Tode in den Himmel aufgenommen werden4, dann haltet sie nicht für Christen, so wenig als einer, wenn er richtig urteilt, behaupten dürfte, die Sadduzäer oder die verwandten Sekten der Genisten, Meristen, Galiläer, Hellenianer, Pharisäer-Baptisten5 seien Juden; mögen sie auch sich Juden oder Kinder Abrahams nennen und mit den Lippen Gott bekennen, ihr Herz ist aber doch, wie Gott selbst gerufen hat, ferne von ihm6. Höret nicht unwillig auf mich, wenn ich alles sage, was ich denke!
S. 134 5. Ich aber und die Christen, soweit sie in allem rechtgläubig sind7, wissen, daß es eine Auferstehung des Fleisches gibt, und daß tausend Jahre kommen werden in dem aufgebauten, geschmückten und vergrößerten Jerusalem, wovon der Propheten Ezechiel8 und Isaias9 und die übrigen sprechen.
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Diese Worte Typhons bedürfen einer Erklärung. Wie kommt er zu dieser Aufforderung an Justin? Hatte denn dieser bereits von einem Zusammenwohnen Gottes mit seinem Volke gesprochen? Darauf läßt sich eine Antwort geben, wenn man berücksichtigt, daß Justin, wie sich aus 84,1 ergibt, immer noch das Thema behandelt: „Siehe, die Jungfrau wird empfangen … und sein Name wird sein Emanuel.“ Nachdem Justin von 77,2 – 79,4 durch Is. 8,4 die Prophetie Is. 7,44 ff. erklärt und bewiesen hatte, daß nur von der Geburt Jesu, nicht aber von der Geburt Ezechias die Rede sein kann, stellt Tryphon nun wohl mit den Fragen in 80,1 an ihn die Aufforderung, er möge auf Is. 7,14 selbst eingehen und beweisen, daß Christus der Emanuel (Gott mit uns) ist, daß es für die Christen ein Zusammenwohnen mit Gott gibt. Ist diese Annahme richtig, dann hat die Schlußfrage Tryphons ἤ ἳνα δόξῃς περικρατεῖν ἡμῶν ἐν ταῖς ζητήσεσι, πρὸς τὸ ταῦτα ὁμολογεῖν ἐχώρησας den Sinn: Bist du (in 77,2 –79,4) von Is. 7,14 auf eine Erklärung von Is. 8,4 übergegangen, um den Schein zu erwecken, als hättest du in unserer Frage (Is. 7,14) selbstverständlich die Wahrheit für dich? Man darf vielleicht annehmen, daß Justin entweder am Schluß des ersten oder am Anfang des zweiten Disputationstages, also da, wo die große Lücke im überlieferten Texte ist, im Anschluß an die vor allem wichtige Isaias-Stelle 7,14 über ein freudiges Zusammenleben Christi mit den Erlösten im wiederauferbauten Jerusalem, und zwar – wie sich aus dem Folgenden ergibt – im Sinne des Chiliasmus sich geäußert hat. Auf diese Äußerung wäre dann in 80,2 u. 3 Bezug genommen. ↩
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Vgl. Th. Zahn, a.a.O. S. 47. ↩
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Vgl. 35, 2. ↩
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Der Anschauung, daß die Seelen nicht sofort nach dem Tode in den Himmel eingehen können, ist außer Justin auch Irenäus (Gegen die Häresien V,31,2). ↩
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Die einzelnen Namen der Sekten sind durch καὶ verbunden; καὶ fehlt nur zwischen den letzten beiden Gliedern (φαρισσαιων βαπτιστων). Vielleicht bezeichnen beide Namen eine einzige Sekte. Eher aber ist mit Harnack anzunehmen, daß die Pharisäer eine spätere Einschaltung in den Text sind. Justin kann kaum den Pharisäern den Juden-Namen abgesprochen haben, da er an anderen Stellen sie einfach mit den Lehrern des jüdischen Volkes identifiziert. – Über die Genisten, Meristen und Hellenianer ist uns nichts Näheres bekannt. Bezüglich der Baptisten vgl. Apg. 19,3 f. ↩
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Is. 29, 13. ↩
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Nach 80,2 sind nicht alle Christen, welche Anhänger der καθαρὰ καὶ εὐσεβὴς γνώμη sind, Vertreter des Chiliasmus; nach 80,5 aber sind alle Christen, welche κατά πάντα ὀρθογνώμονες sind, der chiliastischen Anschauung. Also sind nach Justin die καθαροὶ καὶ εὐσεβὴς nicht auch schon κατὰ πάντα ὀρθογνώμονες. Den einen wie den anderen sind jene Christen entgegengesetzt, welche als ἄθεοι καὶ ἀσεβεῖς αἱρεσιῶται in 80,3 bezeichnet werden. ↩
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37, 12-14. ↩
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Siehe das folgende Kapitel. ↩