Geschichte des Dialoges.
S. a7 Von den Schriften, welche unter dem Namen des hl. Philosophen und Märtyrers Justin auf uns gekommen sind, gelten als unzweifelhaft echt die beiden Apologien und der Dialog mit dem Juden Tryphon. Der letztere stand jedoch lange Zeit an Ansehen und Beliebtheit hinter den beiden Apologien etwas zurück. Auch die „Bibliothek der Kirchenväter“ hatte in ihrer früheren Auflage nur die beiden Apologien aufgenommen, den Dialog aber ausgeschlossen. Selbst in dem anfänglichen Programm für die Neubearbeitung dieser Bibliothek fehlte er. Allein in neuerer Zeit findet er immer mehr Beachtung, und man erkennt, daß er die Zurücksetzung und Vernachlässigung, welche ihm zuteil geworden ist, nicht verdient. Darum hat sich auch die Redaktion der Bibliothek entschlossen, noch nachträglich dieses umfangreichste erhaltene Werk des altchristlichen Apologeten in die Sammlung aufzunehmen 1.
Für Bestimmung der Abfassungszeit des Dialoges kommt die Bemerkung in 120,6 in Betracht, wo Justin erklärt, er habe sich in einem Schreiben an den Kaiser gewendet 2. Dieses Schreiben ist die erste Apologie, welche der Philosoph an den Kaiser Antoninus Pius (138-161) gerichtet hatte, und zwar wahrscheinlich 155 oder 156 zu Beginn des Pontifikates von Papst Anicet, noch vor der Romreise Polykarps 3. Der Dialog ist also erst nach 155 oder 156 geschrieben. Er muß S. a8 andererseits noch vor 161, dem Todesjahre des erwähnten Kaisers, verfaßt worden sein, wie sich aus der gleichen Bemerkung 120,6 schließen läßt. Denn hätte damals bereits Kaiser Marc Aurel die Regierung in Händen gehabt, dann hätte Justin nicht in bezug auf dessen Vorgänger, ohne ihn ausdrücklich zu nennen, kurzweg sagen können, er habe an den Kaiser geschrieben.
Auf die späteren Schriftsteller hat Justin durch seinen Dialog nicht allzulange Einfluß ausgeübt. Wir finden Irenäus, vor allem Tertullian beeinflußt. Namentlich in Tertullians Schriften „Gegen die Juden“ und „Gegen Marcion“ zeigen sich wiederholt Anlehnungen an den Dialog. Es ist auch möglich, daß Tatian, der Schüler Justins, diese Schrift seines Lehrers benützt hat. Damit dürfte bereits die Frage beantwortet sein: Wie weit reicht in der altchristlichen Literatur der Einfluß des Dialoges?
Die Dogmengeschichte wird allerdings von einem längeren Nachwirken eigenartiger Ausdrücke und Wendungen sprechen, deren sich Justin in den zahlreichen christologischen Erörterungen des Dialoges bedient hat. Ob aber gerade diese Schrift direkt und unmittelbar zur Befruchtung, Verbreitung oder Weiterentwicklung subordinatianischer Lehren beitrug, wird fraglich sein.
Auch Eusebius von Cäsarea und der hl. Hieronymus erwähnen den Dialog. Aber sie referieren darüber nur als Historiker. Der erstere schreibt in seiner Kirchengeschichte IV 18,6 u. a.: „(Justin) verfaßte einen Dialog gegen die Juden, den er zu Ephesus mit Tryphon, einem der angesehensten Hebräer der damaligen Zeit, gehabt hat.“ Diesem Berichte schließt sich fast wortgetreu Hieronymus in seinem Werke „Berühmte Männer“ 23 an. Ganz vereinzelt taucht später noch ein Zitat aus Justins Dialog in den „Heiligen Parallelen“ des Johannes von Damaskus auf 4. Daß Photius den Dialog gekannt hat, läßt sich nur vermuten 5.
S. a9 Dann scheint er völlig vergessen worden zu sein. Auch zur Zeit der Scholastik griff man scheinbar nicht zur ältesten schriftlich fixierten Disputation zwischen einem Christen und Juden zurück, obwohl damals vor allem in Spanien Disputationen mit Juden nicht zur Seltenheit gehörten und die Frage nach der Bedeutung des Judentums, bezw. des Alten Bundes da und dort von aktuellem Interesse war 6.
Trotz des geringen Ansehens in alter und älterer Zeit hat sich aber der griechische Text unserer Schrift erhalten. Allerdings nur in einer einzigen Handschrift ist er überliefert, und zwar in verderbter und lückenhafter Gestalt. Die Handschrift stammt aus dem Jahre 1363. Bischof G. Pelicier, 1539-41 Gesandter in Venedig, fand sie in dieser Stadt vor. Bald darauf kommt sie in die königliche Bibliothek nach Fontainebleau und mit dieser unter Karl IX. nach Paris, wo sie noch heute sich befindet. Eine Kopie dieser Handschrift wurde wohl im Auftrage des erwähnten Pelicier in Venedig hergestellt. Dieselbe war lange Zeit in der Bibliothek der Jesuiten des Collegium Claromontanum zu Paris und ist jetzt in den Händen eines gewissen M. F. Fitzroy Fenwick in Cheltenham in England 7.
Gedruckt wurde der Dialog zum ersten Male im Jahre 1551 zu Paris von Robert Stephanus.
Daß in der erwähnten Handschrift der Dialog in verderbter und lückenhafter Gestalt auf uns gekommen ist, ergibt schon die Einleitung. In derselben fehlt die Widmung, welche an einen gewissen, nicht näher bekannten Marcus Pompeius gerichtet war; der Name S. a10 begegnet uns jetzt erst am Schlusse des Dialoges in 141,5 8. Es wäre möglich, daß die ausgefallene Widmung den Umfang eines Prologes hatte. Aus ihm mag wohl Eusebius auch die Mitteilung geschöpft haben, daß der Dialog in Ephesus stattgefunden hatte.
Eine sehr beträchtliche Lücke ist nach 74,3 anzunehmen, obwohl die Handschrift äußerlich eine Lücke in keiner Weise andeutet. In 74, 2 u. 3 hatte nämlich Justin, durch Bemerkungen Tryphons veranlaßt, begonnen, den Psalm 95 zu erklären, den er bereits in 73, 3 und 4 vollständig zitiert hatte. Schon in der Besprechung der ersten drei Verse des Psalmes bricht aber der Gedanke mit einem Male mitten im Satze ab, und die Handschrift fährt fort mit einem Bruchstück aus Deut. 31,16. Die Lücke im Gedankengang ist deutlich. Aber was hat sie enthalten? Zunächst wird Justin den Psalm 95 vollständig besprochen haben. Wir sind aber in der Lage, noch nähere Aufschlüsse zu geben. Da wir im Dialoge zwei Disputationstage zu unterscheiden haben 9, und da das, was vor 74,3 niedergeschrieben worden ist, an dem ersten Tage gesprochen wurde, während die Reden nach 74, 3 am zweiten Tage stattfanden, so muß Justin in der erwähnten Lücke auch den Szeneriewechsel, den Abschied am ersten Tage und das Wiedersehen am zweiten Tage geschildert haben. Aber noch mehr wird die verloren gegangene Stelle enthalten haben. Da nämlich im Laufe des zweiten Teiles des Dialoges 10, d. i. während des Gespräches am zweiten Tage, wiederholt auf frühere Erklärungen zurückgewiesen wird, solche Erklärungen aber in dem uns vorliegenden Texte vergeblich gesucht werden, dürften sie ebenfalls an der erwähnten Stelle, d. h. entweder am Schlusse des ersten Disputationstages oder zu Beginn des zweiten gegeben worden sein. Auf die verloren gegangene Stelle mögen S. a11 sich vielleicht beziehen die Bemerkungen in 79,1; 79,4; 80,1-3; 105,4; 142,11 11.
Auch die biblischen Texte des Dialoges haben manche Veränderung erfahren; es begegnen uns nämlich in unserer Handschrift dieselben Schriftstellen bald in dieser bald in jener Lesart, und bisweilen paßt die überlieferte Lesart der Handschrift nicht zu den von Justin gegebenen Erklärungen. In Kap. 30. 56. 115 hat sich ein Abschreiber auch erlaubt, Bibelzitate bedeutend abzukürzen 12.
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Über Justins Leben und seine Schriftstellerei im allgemeinen hat Prof. Rauschen in dieser „Bibliothek“, und zwar im I. Bande der frühchristlichen Apologeten bereits kurz berichtet. ↩
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ἐγγράφως Καίσαρι προσομιλῶν ↩
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Vgl. K. Kubik, „Die Apologien des hl. Justinus, des Philosophen und Märtyrers“ (Wien 1912), S. 210 f. u. 298 f. ↩
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K. Holl, Fragmente vornicänischer Kirchenväter aus den Sacra parallela (Leipzig 1899), S. 34 f. ↩
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Über die Benützung des Dialoges in der altchristlichen Literatur vgl. A. Harnack, „Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius“ I.1. (Leipzig 1898). S. 100 ff.; ders.. „Die Überlieferung der griechischen Apologeten des zweiten Jahrhunderts“ (Leipzig 1882), S. 180ff.; G. Archambault, „Justin, Dialogue avec Tryphon“ (Paris 1909), I. S. XXXVIII ff. ↩
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Z. B. wollte die Summa contra Gentiles des hl. Thomas Material und Weisung geben für Disputationen mit Mauren und Juden. ↩
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Vgl. Harnack, „Die Überlieferung der griech. Apologeten“ S. 73 ff.; Archambault, a. a. O. S. XII ff. ↩
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Vgl. 8,3. ↩
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Vgl. 56,16; 78,5; 85,4; 92,5; 94,4; 98,4; 122,4; 137,4. ↩
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Von zwei Hauptteilen, bezw. zwei Büchern des Dialoges spricht auch Johannes von Damaskus in den „Heiligen Parallelen“ (Holl, a. a. O. S. 84). ↩
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Vgl. Th. Zahn, „Dichtung und Wahrheit in Justins Dialog mit dem Juden Tryphon“: Zeitschr. f. Kirchengeschichte Bd. VIII (1885-1886) S. 37 -66. ↩
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Auch das Ezechiel-Zotat in 44,2 dürfte gekürzt sein ( vgl. 43,3). ↩