29.
(1) Da ich nun dies alles gesehen1, obendrein noch in die Mysterien eingeweiht worden war und überall die Kulte, die von weichlichen Eunuchen2 besorgt werden, geprüft und schließlich erfahren hatte, daß bei den Römern ihr Zeus Latiaris sich an Menschenopfern und Menschenblut ergötze3, daß Artemis nicht weit von der großen Stadt4 die gleiche Art von Opferhandlungen beanspruche, daß der eine Dämon hier, der andere dort an Auswüchsen frevelhaften Tuns Gefallen finde: da ging ich in mich und forschte nach, auf welche Weise ich die Wahrheit finden könnte. (2) Und während ich über das Problem des Guten nachsann, traf sich’s, daß mir einige barbarische Schriften in die Hand fielen, die im Vergleich mit den Lehrsätzen der Griechen ein höheres Alter, im Vergleich mit griechischer Irrehre göttliche Erleuchtung aufwiesen. (3) Und es fügte S. 241 sich, daß diese Schriften mich überzeugten durch die Schlichtheit ihres Stils, durch die Anspruchslosigkeit ihrer Verfasser, durch die wohlverständliche Darstellung der Weltschöpfung, durch die Voraussicht der Zukunft, die Ungewöhnlichkeit der Vorschriften und die Zurückführung aller Dinge auf einen Herrn: (4) sie haben meine Seele über Gott belehrt und ich verstand, daß die Griechenlehre zur Verdammnis führe, die Barbarenlehre aber die Sklaverei in der Welt aufhebe, von vielen Herren und tausend Tyrannen uns befreie5 und uns nicht etwa das gebe, was wir nicht schon empfangen hätten, sondern nur zurückstelle, was wir zwar empfangen hatten, aber infolge des Irrtums nicht festzuhalten vermochten6.
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Ταῦτ’ οὖν ἰδών bezieht Geffcken ZgrA. S. 112 Anm. 4, unrichtig nur auf die im ersten Satz von Kap. XXVIII erwähnte παιδεραστία der Römer statt zum mindesten auf alle in diesem Kapitel erwähnten νομοθεσίαι der drei alten Kulturvölker; auch die weitere Beschuldigung, daß Tatian „hier wiederum verlogener Weise aus Autopsie zu reden behauptet“, entbehrt jeder Begründung und Wahrscheinlichkeit: Tatians Aufenthalte in Rom, Griechenland und im Orient unterliegen keinem Zweifel und auffällig wäre nur, wenn der Apologet von derlei anstößigen „Landessitten“ nicht aus eigener Erfahrung zu erzählen gewußt hätte, vgl. Kap. XXXV 1, s. Einl. S. 15 f. ↩
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διὰ θηλυδριῶν καὶ ἀνδρογύνων, ab effeminatis spadonisbus, wie z. B: den Priestern der Magna Mater von Pessinus oder den Megabyzen der Ephesichen Artemis. ↩
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Die Nachricht (vgl. Justin. apol. II 12,5) gehört in den Bereich der Fabel, s. Wissowa, Rel. u. Kult. d. Röm., 2. Aufl. 1912, S. 124, Anm. 8; vgl. Geffcken TgrA. S. 66, Anm. 1: ↩
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Gemeint ist wohl die Diana Nemorensis von Aricia im Albanergebirge, s. Wissowa a. O. S. 247 ff. ↩
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Vgl. Kap. XIII 5; XIV 1. ↩
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Tatian meint den „heiligen Geist“ s. Kap. VII 1; XIII 5 f.; XV 1 und 9; XX 2 f. ↩