10.
So setzt und schätzt Heraklit das Offenbare und das Verborgene gleich, als ob das Sichtbare und das Verborgene fraglos ein und dasselbe wäre. „Es ist nämlich“, sagt er, „verborgene Vereinigung besser als offenkundige“1, und: „Alles, was man sehen, hören, lernen kann“, d. i. (durch) die Organe, „das ziehe ich vor“2, er zieht also nicht das Unsichtbare vor. Und so sagt Heraklit, daß Dunkel und Licht, Böses und Gutes nicht verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe seien. Er tadelt den Hesiod, daß er Tag und Nacht nicht3 kennt; Heraklit sagt nämlich, daß Tag und Nacht ein und dasselbe seien: „Die meisten haben Hesiod zum Lehrer; sie sind überzeugt, daß er gar viel weiß, er, der Tag und Nacht nicht erkannt hat; sie sind ja doch eines“4. Ebenso Gut und Böse: „Fordern doch die Ärzte, wenn sie schneiden, brennen und die Kranken durchweg arg quälen, noch Lohn dazu, obwohl sie keinen von den Kranken zu erhalten verdienen, da sie dasselbe, Gutes und Krankheiten, bewirken“5. Auch das Gerade und das Krumme ist dasselbe: „Der Walkerschraube Weg, gerade und krumm“ — die Drehung des Instrumentes, das in der Walkerwerkstätte Schraube heißt, ist gerade und gewunden; es geht nämlich aufwärts und im Kreise — „ist ein und derselbe“6. Und Oben und Unten ist eins und dasselbe. „Der Weg nach oben und unten ist, ein und derselbe“7. Und das Unreine, sagt er, und das Reine ist ein und dasselbe und das Trinkbare und das Untrinkbare ein und dasselbe. „Das Meer ist S. 243 das reinste und das scheußlichste Wasser, für die Fische genießbar und lebenerhaltend, für die Menschen untrinkbar und tödlich“8. Er behauptet auch, das Unsterbliche sei offenbar sterblich und das Sterbliche unsterblich. „Unsterbliche sterblich, Sterbliche unsterblich: sie leben gegenseitig ihren Tod und sterben ihr Leben“9. Er lehrt auch die Auferstehung des sichtbaren Leibes, in dem wir zur Welt kamen, und weiß, daß Gott der Urheber dieser Auferstehung ist: „Vor ihm aber, der dort ist, erhöben sie sich und wach würden die Wächter der Lebendigen und der Toten“10. Er lehrt auch, daß das Gericht der Welt und alles dessen, was in ihr ist, durch Feuer erfolge: „Alles steuert der Blitz“11, d. h. er lenkt es; unter Blitz versteht er das ewige Feuer. Er sagt weiter, dieses Feuer sei vernunftbegabt und Ursache der Weltregierung; er nennt es aber „Mangel und Fülle“12; nach ihm ist die Weltbildung Mangel, der Weltbrand Fülle: „Über alles nämlich wird das Feuer kommen und es richten und verdammen“13. In diesem Kapitel hat er seine ganze Auffassung auseinandergesetzt, zugleich aber auch den Geist der Irrlehre des Noetus, von dem ich kurz nachgewiesen habe, daß er nicht Christi, sondern des Heraklit Schüler sei. Heraklit nennt die geschaffene Welt ihren eigenen Gestalter und Schöpfer: „Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Fülle und Hunger“ — lauter Gegensätze: das ist seine Meinung — , „er wandelt sich aber wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermengt wird, nach eines jeglichen Wohlempfindung so oder so benannt wird“14. Klar ist es allen, daß die tollen Nachfolger des Noetos und die Vorsteher seiner Sekte mit Annahme seiner Ansichten sich die des Heraklitus zu eigen machen, wenn sie auch, wie sie vorbringen, nicht des Heraklit Hörer waren. Dies nämlich behaupten sie: ein und derselbe Gott sei der Gestalter und Vater aller Dinge, er sei nach seinem Gutdünken S. 244 den ersten Gerechten erschienen, obwohl er unsichtbar war; wenn er nämlich nicht gesehen wurde, war er unsichtbar; wenn er gesehen wurde, sichtbar; unfaßbar, wenn er nicht erfaßt sein wollte, und faßbar, wenn er erfaßt wurde: so ist er aus demselben Grunde unüberwindlich und überwindlich, unerzeugt und erzeugt, unsterblich und sterblich. Wie sollen diese Leute nicht als des Heraklit Schüler erwiesen werden? Hat nicht „der Dunkle“ mit denselben Worten philosophiert?15 Daß Noetos behauptet, ein und derselbe sei Sohn und Vater, weiß jeder. Er sagt so: „Als nämlich der Vater noch nicht erzeugt war, wurde er mit Recht Vater genannt, als er sich aber entschloß, eine Zeugung über sich ergehen zu lassen, wurde er bei der Zeugung sein eigener Sohn, nicht der eines anderen. So bildet er sich ein, die Monarchia (Einheit) zu beweisen, indem er behauptet, ein und dasselbe sei der Vater und der sogenannte Sohn, nicht ein anderer aus einem andern, sondern er selbst aus sich, dem Namen nach zwar Vater und Sohn genannt gemäß der Zeitenfolge. Dieser eine, welcher erschienen sei, der die Geburt aus der Jungfrau auf sich genommen und als Mensch unter Menschen geweilt habe, bekannte sich den Augenzeugen gegenüber als Sohn wegen der erfolgten Zeugung; denen aber, die es faßten, verbarg er es nicht, daß er der Vater sei. Ihn, der an das qualvolle Kreuz geheftet ward und sich selbst seinen Geist übergab, der starb und nicht starb, und sich selbst am dritten Tage auferweckte, der im Grabmal beigesetzt und mit der Lanze und den Nägeln durchbohrt ward, von diesem sagen Kleomenes und sein Anhang, er sei der Gott des Alls und der Vater, und bringen so das Dunkel des Heraklitus über viele.
