Einleitung zur Schrift: „Das Leben Makrinas."
S. 39 Von Makrina, der heiligen Schwester Gregors, dem erstgebornen Kinde der Familie, ist auf den vorausgehenden Blättern schon mehrfach die Rede gewesen. In dem bedeutsamen Dialoge Gregors „Über die Seele und die Auferstehung“ führt sie als „Lehrerin“ das Wort. Im 19. Brief Gregors (M. 46, 1076) wird ihrer mit Bewunderung, dankbar und pietätvoll gedacht. Auf die Aufforderung eines seelenverwandten Freundes hin, des Mönches Olympius, verfaßte Gregor noch eine Vita Macrinae, wahrscheinlich nach 380, nachdem er von der Reise nach Palästina und Arabien1 heimgekehrt war. In diesem Schriftchen hat er der ungewöhnlich mit Geistesgaben und Charakterstärke ausgestatteten Schwester ein höchst wertvolles Denkmal gesetzt. Seine Absicht ging dahin, daß das Beispiel einer solchen begnadeten Seele, welche „durch echte Lebensweisheit den höchsten Gipfel S. 40 menschlicher Tugend erstiegen hatte, nicht vom Schleier der Vergessenheit verhüllt werde und nicht nutzlos vorübergehe.“ Ob man sie überhaupt ihrer Natur nach eine Frau nennen dürfe? Denn sie hatte sich über die Natur erhoben2. Der Verfasser beteuert nachdrücklich, daß er nichts sage, was ihm etwa erst von andern berichtet worden sei. Als ihr leiblicher Bruder war er unmittelbarer Augen- und Ohrenzeuge alles dessen, was er in der Schrift mit aller „Genauigkeit“ zur Darstellung bringen will. Es ist auch keine rein rhetorische Floskel, wenn er verspricht, in ungekünstelter, einfacher Rede den Lebensgang Makrinas zu schildern. Der Leser wird in der Tat durch die einfache, naturwahre, anschauliche und unmittelbar sich aussprechende Herzlichkeit des Erzählers gefesselt. So ist das Buch eine kostbare Perle der hagiographischen Literatur des christlichen Altertums geworden, ein altgriechisches Bild von jungfräulich ernster Größe und Schönheit3.
Inhaltlich belehrt die Vita über den frühreifen Ernst des Kindes, seine Vorliebe für Zurückgezogenheit und Lesung der heiligen Schriften. Mit den Jahren wird Makrina eine kräftige Stütze der Mutter und Miterzieherin der jüngeren Geschwister. Eine eheliche Vermählung schlägt sie standhaft aus, nachdem der ihr verlobte Bräutigam unerwartet gestorben war. Im Iriskloster waltet sie als Muster einer geistlichen Mutter und Führerin gottgeweihter Jungfrauen; das Leben der Engel glaubt Gregor dort zu finden. Ein wundervoll schöner Tod krönt das der Liebe Gottes und des Nächsten geweihte Leben. Ihr Sterbegebet (M. 46, 984―985) klingt wie eine feierliche Liturgie, gewoben aus Texten der Heiligen Schrift, die den Triumph Christi über den Tod, die Hölle und den bösen Feind verkünden, und kirchlichen Gebeten, die demütiges Flehen und glaubensvolle Zuversicht atmen. ― Ein Lebensbild von entzückender S. 41 Schönheit, von einer Einfachheit und Folgerichtigkeit, Stärke und Tiefe sondergleichen! Reichste Gaben der Natur und Übernatur vereinigen sich zu vollendeter Harmonie. Mit der Außenwelt ein sicherer, freundlich wohltätiger Verkehr, im Innern des Herzens strahlendes Glaubenslicht und lodernde Liebesflamme; ein stetiges Wachsen und Reifen zum Vollalter in Christus4!
Die vorliegende Übersetzung schließt sich an den relativ besten Text der Ausgabe von F. Öhler, Bibliothek der Kirchenväter T. I, Bd. I 1858, S. 172―239 an. Doch wurde die Mignesche Ausgabe, welche in Patrol. Gr., Tom. XLVI col. 959―1000 einen Abdruck des Textes von F. Morel Tom. II (1638), col. 177―204 bietet, wegen ihrer leichteren Zugänglichkeit insoweit berücksichtigt, daß ihre Hauptabweichungen vom Öhlerschen Text in den Anmerkungen hervorgehoben wurden.
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Siehe oben S. XXVII. Der Tod Makrinas fällt 379 oder Anfang 380. ↩
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τὴν ἄνω γενομένην τῆς φύσεως [tēn anō genomenēn tēs physeōs]. ↩
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Vgl. die Skizze in der Monatsschrift „Seele“ VI (1924) 356―361. Stilverwandtschaft zeigt das „Leben des hl. Porphyrius“ vom Diakon Markus. (Übersetzt von Dr. G. Rohde) Berlin 1927. ↩
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Interessante Streiflichter entfallen in der Vita nebenher auf kirchliche und klösterliche Gebräuche, bzw. Bestattungszeremonien jener Zeit. ↩