8.
Ja, was hat Gott nicht für uns getan? — Das All machte er vergänglich unseretwegen, er macht es unseretwegen auch wieder unvergänglich. Die Propheten ließ er mißhandelt werden unseretwegen, in die Verbannung schickte er sie unseretwegen, in den Feuerofen ließ er sie hinabsinken und unzählige Leiden erdulden. Propheten ließ er kommen unseretwegen, auch Apostel unseretwegen. Seinen eingeborenen Sohn hat er unseretwegen hingegeben, den Teufel bestraft er unseretwegen; uns hat er zu seiner Rechten gesetzt; er litt Schmach unseretwegen. „Die Schmähungen derer, die dich schmähen“, heißt es, „fallen auf mich“ 1. Und da wir dennoch nach so vielen Wohltaten von ihm abgefallen sind, läßt er uns nicht fallen, sondern ruft uns neuerdings und veranlaßt andere, für uns ihn anzurufen, damit er uns Gnade erweisen könne. So war es mit S. b295 Moses. Denn zu ihm sprach er: „Laß mich, ich werde sie vertilgen“ 2. Das tat er aber, um ihn zu veranlassen, für sie Fürbitte einzulegen. Und jetzt tut er dasselbe. Aus diesem Grunde gab er auch die Gabe des Gebetes. Er tut dies, nicht als ob er unser Gebet nötig hätte, sondern damit wir nach unserer Rettung nicht in einen noch schlimmeren Zustand geraten sollen. Darum sagt er öfter, daß er den Juden verzeihe im Hinblick auf David oder den oder jenen; er tut dies, um der Verzeihung einen Vorwand zu geben. Er selbst würde ja freilich noch liebevoller gegen die Menschen erscheinen, wenn er erklärte, daß er nicht im Hinblick auf diesen oder jenen, sondern aus freien Stücken seinen Zorn gegen sie fahren lasse; aber er wollte das nicht, damit nicht die Art der Vergebung für die Geretteten eine Veranlassung zur Fahrlässigkeit würde. Darum sprach er zu Jeremias: „Bete nicht für dieses Volk, weil ich dich nicht erhören werde“ 3. Er wollte aber nicht, daß er aufhöre, zu beten — denn zu sehr wünschte er unser Heil —, sondern er wollte jene nur schrecken. Das wußte auch der Prophet, und er hörte darum nicht auf, zu beten. Damit du aber siehst, daß Gott mit diesen Worten den Propheten nicht vom Beten abhalten, sondern das Volk mit Scham erfüllen wollte, so höre, was Gott weiter sagt: „Oder siehst du nicht, was sie tun?“ Und wenn er zur Stadt spricht: „Wenn du dich gleich mit Lauge wäschest und viel Pottasche gebrauchtest, so bliebe dir vor mir doch der Flecken“ 4, so sagt er das nicht, um sie in Verzweiflung zu stürzen, sondern zur Buße zu bewegen. Denn gleichwie er dadurch, daß er über die Bewohner Ninives ohne Unterschied das Todesurteil sprach und ihnen (scheinbar) keine Hoffnung ließ, sie in Schrecken setzte und zur Buße führte, so macht er es auch hier: er bringt die Israeliten in Aufregung und verschafft dem Propheten mehr Achtung, damit sie ihn so anhören. Nachdem sie aber unheilbar krank blieben, und auch dann nicht zur Vernunft kamen, als S. b296 schon die übrigen in die Gefangenschaft geschleppt wurden, so ermahnt er sie fürs erste, im Lande zu bleiben. Als sie aber dies nicht wollten, sondern nach Ägypten flüchteten, gab er auch das zu und verlangt nur von ihnen, daß sie sich nicht mit den Ägyptern in den Götzendienst einlassen sollten. Als sie auch das nicht befolgten, schickt er den Propheten mit ihnen, damit sie nicht ganz und gar vom rechten Wege abkämen. Weil sie auf seinen Ruf nicht horchten, geht er ihnen selbst nach, weist sie zurecht und hindert sie, auf dem Wege der Bosheit weiter fortzuschreiten, so wie ein liebevoller Vater seinem Sohn, der sich in unglücklicher Lage befindet, immerfort helfend zur Seite steht und ihm überallhin folgt. Darum schickte Gott nicht bloß nach Ägypten den Jeremias, sondern auch nach Babylon den Ezechiel, und keiner von beiden erhob Widerspruch. Denn weil sie sahen, daß ihr Herr die Juden so innig liebte, taten auch sie unablässig dasselbe, geradeso wie ein (der Familie) wohlgesinnter Sklave Mitleid hat mit einem ungeratenen Sohn, wenn er sieht, daß sein Vater sich über ihn kränkt und grämt. Was mußten sie nicht alles für ihre Volksgenossen leiden! Sie wurden zersägt, verbannt, geschmäht, gesteinigt und erlitten tausendfältiges Ungemach. Aber nach allem dem eilten sie ihrem Volke immer wieder zu Hilfe. Auch Samuel hörte nicht auf, den Saul zu beweinen, obgleich er von ihm bittere Schmähungen erfahren und Unerträgliches erduldet hatte. Aber er dachte gar nicht mehr daran. Dem Volk der Juden hat Jeremias gar geschriebene Klagelieder gewidmet. Als ihm der persische Heerführer die Erlaubnis gegeben hatte, sich in Ruhe und nach freier Wahl niederzulassen, da zog er das trübselige und entbehrungsvolle Beisammensein mit seinem Volke in der Fremde dem Aufenthalte in der Heimat vor. So verließ auch Moses den königlichen Hof und das Leben daselbst und eilte seinem Volke zu Hilfe. Und Daniel blieb sechsundzwanzig Tage ohne Speise und quälte sich mit dem strengsten Fasten, um Gott mit seinen Volksgenossen zu versöhnen. Die drei Jünglinge im Feuerofen brachten mitten im Feuer ihre Fürbitten für sie dar. Nicht für sich selbst waren sie in Kummer S. b297 — denn sie waren ja gerettet —, sondern weil sie gerade damals am ehesten die Freiheit einer Bitte zu haben glaubten, legten sie Fürsprache ein für ihr Volk. Darum sprachen sie: „Mit zerknirschter Seele und demütigem Herzen mögen wir aufgenommen werden.“ 5. Ihretwegen zerriß auch Josua seine Kleider. Ihretwegen weinte und klagte auch Ezechiel, als er sah, wie sie niedergemetzelt wurden. Und Jeremias (?) sprach: „Laßt mich, ich muß bitter weinen“ 6. Und früher einmal, da er gar nicht wagte, um Verzeihung für die Missetaten seines Volkes zu bitten, da fragt er nach dem Aufschub der Strafe, indem er spricht: „Wie lange, Herr?“ 7 Das Geschlecht der Heiligen ist nämlich voller Liebe. Darum sagte auch Paulus: „So ziehet denn an als Erwählte Gottes und Heilige ein Herz des Erbarmens, Güte und Demut“ 8.