3.
Begreifst du nun, wie schwer die Anklage ist? Die Juden leisteten dem Rufe Gottes nicht nur keine Folge, sondern sie widersprachen ihm noch, und das nicht einmal oder zweimal oder dreimal, sondern jedesmal, wenn sie seinen Ruf vernahmen. Die Heiden dagegen, die ihn niemals gekannt hatten, hatten die Kraft, ihn sich zu gewinnen. Es heißt aber nicht, daß sie selbst die Kraft hatten, ihn sich zu gewinnen, sondern Gott nimmt auch den Heiden(christen) die Einbildung, indem er ihnen zu verstehen gibt, daß seine Gnade alles bewirkt habe. Es heißt ja: „Ich wurde offenbar“, und „ich ließ mich finden“. Sind sie nun ohne alles Verdienst? Keineswegs, sondern daß sie den Gefundenen annahmen und für den offenbar Gewordenen Verständnis hatten, das taten sie von ihrer Seite dazu. Damit aber die Juden nicht fragen sollten: warum bist du denn uns nicht offenbar geworden?, fügt er noch etwas bei, was mehr ist als dieses: Ich bin nicht bloß offenbar geworden, sondern ich habe immerzu die Hände ausgestreckt und gerufen und so die Sorge eines zärtlichen Vaters, einer liebevollen Mutter an den Tag gelegt.
Siehst du da, wie der Apostel eine ganz klare Lösung aller früher vorgebrachten Schwierigkeiten gibt, indem er nachweist, daß der Juden Verderben ein frei gewolltes sei, und daß sie darum keine Nachsicht verdienen? Denn sie haben den Ruf Gottes gehört und ihn auch verstanden, aber ihm nicht folgen wollen. — Aber noch mehr; Gott brachte die Juden nicht bloß dazu, daß sie ihn hörten und auch verstanden, sondern er tat noch etwas, was noch mehr dazu angetan war, sie wachzurufen und sie trotz ihres Eigensinnes und ihrer Widerspenstigkeit an sich zu ziehen. Was war das? Er brachte sie in den Harnisch und machte sie eifersüchtig. Ihr kennt ja die Gewalt dieser Leidenschaft; ihr wißt ja, wie die Eifersucht dazu angetan ist, allen Eigensinn zu brechen und Abtrünnige zur Rückkehr zu bewegen. Wie sollte dies nicht von erwachsenen Menschen gelten, da die Eifersucht ihre große Gewalt sogar an unvernünftigen Tieren und kleinen Kindern zutage treten läßt? Oft folgt ein kleines Kind dem Vater nicht auf seinen Ruf, sondern bleibt eigensinnig von ihm fern; S. d79 wenn er aber ein anderes Kind liebkost, kommt das erstere auch ungerufen in den väterlichen Schoß. Was das Rufen nicht vermochte, das vermag nun die Eifersucht. Dasselbe Mittel hat denn auch Gott angewendet. Er hat die Juden nicht bloß gerufen und die Hände nach ihnen hingestreckt, sondern er hat in ihnen auch die Leidenschaft der Eifersucht wachgerufen. Er hat nämlich Völker, die tief unter ihnen standen — und das erregt ja besonders Eifersucht —, in den Besitz von den Gütern gesetzt, die ihnen selbst zugedacht waren, ja nicht bloß in den Besitz von denselben Gütern, sondern, was die Leidenschaft noch mehr aufstachelt, von noch viel größeren und wichtigeren, von solchen Gütern, an die sie selbst kaum jemals im Traume gedacht hatten. Aber auch das zog bei ihnen nicht. Welche Nachsicht sollten sie daher verdienen, nachdem sie ein solches Übermaß von Eigensinn an den Tag gelegt hatten? Gar keine.
Aber das sagt der Apostel nicht selbst, sondern er überläßt es der Einsicht seiner Zuhörer, diesen Schluß aus dem Gesagten zu ziehen, und fährt dann in der Behandlung des Gegenstandes mit der gewohnten Feinfühligkeit fort. Denn wie er es oben gemacht hat — er hat nämlich Einwände gegen das Gesetz des Alten Bundes und das Volk der Juden vorgebracht, die eine größere Anschuldigung enthielten, als jene verdient hatten, und hat dieselben dann bei der Widerlegung mit Absicht auf das richtige Maß zurückgeführt und auf diese Weise seiner Rede das Verletzende genommen —, so verfährt er auch hier, indem er schreibt:
Kap. XI. V. 1: „Sage ich nun: Vielleicht hat Gott sein Volk, welches er voraus erkannt hatte, überhaupt verstoßen? Das sei ferne!“
Gleichsam veranlaßt durch das vorher Gesagte, nimmt der Apostel den Schein eines Zweifelnden an und spricht als solcher das furchtbar harte Wort aus. Dadurch aber, daß er es sofort zurückweist, verschafft er dem, was folgt, bereitwilligere Aufnahme. Er spricht nämlich an dieser Stelle dasselbe aus, was er im vorausgehenden darzulegen sich bemüht hat. Und was ist S. d80 das? Der Gedanke: Die Heilsbotschaft bleibt bestehen, wenn auch nur wenige (von den Juden) sich zum Heile führen lassen. Darum spricht er nicht schlechthin von „dem Volk“, sondern er fügt bei: „welches er voraus erkannt hatte“. Der Apostel setzt dann den Nachweis, daß das Volk der Juden nicht ganz von Gott verstoßen sei, fort und sagt:
„Bin ich doch auch ein Israelit aus der Nachkommenschaft Abrahams, aus dem Stamme Benjamins.“
— Ich, spricht er, der Lehrer, der Herold. Weil dies im Gegensatz zu stehen scheint mit den vorausgehenden Sätzen: „Wer hat unserer Kunde Glauben geschenkt?“, und: „Den ganzen Tag streckte ich meine Hände zu einem Volke hin, das sich nichts sagen läßt und widerspenstig ist“, und: „Ich werde euch eifersüchtig machen auf ein Nichtvolk“, darum begnügt sich der Apostel nicht mit einer bloßen Verneinung und auch nicht mit dem Worte: „Das sei ferne!“ sondern er führt einen Beweis, indem er den Gedanken wieder aufnimmt und sagt: „Nicht verstoßen hat Gott sein Volk.“ Aber, sagst du, das ist ja kein Beweis, sondern eine Behauptung. Sieh nun den Beweis, und zwar einen solchen, der aus einem ersten und einem zweiten Punkte besteht. Der erste Punkt desselben besteht darin, daß der Apostel zeigt, daß auch er selbst von dorther stammt. Hätte Gott die Juden verstoßen wollen, so hätte er nicht den Mann aus ihrer Mitte gewählt, dem er die Verkündigung des Evangeliums, das ganze Christentum mitsamt seinen Geheimnissen und die ganze Heilsordnung des Neuen Bundes anvertraut hat. Das ist der eine Beweispunkt; der andere liegt in den Worten: „Das Volk, welches er voraus erkannt hatte“, d. h. von dem er genau wußte, daß es geeignet sei für den (christlichen) Glauben und ihn annehmen werde. Und wirklich sind ihrer ja doch dreitausend und fünftausend und zehntausend gläubig geworden.