2.
Hernach kehrtest du wieder zu deinem früheren Lasterleben zurück, feiertest Orgien und nahmst unter dem gottlosen Antiochus heidnisches Wesen an. Aber auch da wart ihr nur drei Jahre und etwas darüber dem Antiochus ausgeliefert, dann pflanztet ihr wieder unter den Makkabäern herrliche Siegeszeichen auf. Der- S. d98 malen jedoch geschieht nichts dergleichen, sondern ganz das Gegenteil. Und ganz merkwürdig — das Laster hat aufgehört, die Strafe aber hat sich gehäuft, und es ist auch gar keine Hoffnung, daß es anders werde. Nicht siebzig Jahre geht es so fort, nicht hundert oder zweihundert, sondern dreihundert und viel darüber, und noch immer ist auch nicht ein Schatten von Hoffnung zu erspähen. Und dabei treibt ihr nicht Abgötterei noch etwas dergleichen, was ihr euch früher erkühnt hattet. Woran liegt es nun? Die Zeit der Vorbilder ist vorüber und die Wahrheit an deren Stelle getreten, dem Gesetz ist die Gnade gefolgt. Das weissagt der Prophet, wenn er spricht: „Krampfe ihren Rücken ganz und gar zusammen.“ Siehst du, wie bis ins Einzelne genau die Weissagung ist? Wie sie sowohl den Unglauben der Juden vorausverkündet, wie sie auch ihre Halsstarrigkeit zum Ausdruck bringt, die darauffolgende Strafe anzeigt und die endlose Dauer der Züchtigung (durch das Bild von dem ganz und gar gekrümmten Rücken) veranschaulicht? Weil es unter den Juden viele grobsinnige Leute gab, die auf Verheißungen zukünftiger Dinge nichts gaben, sondern sie in der Gegenwart verwirklicht sehen Rollten, darum erwies Gott seine Macht nach beiden Seiten (sowohl gegen die Gläubigen als auch gegen die Ungläubigen): die Gläubigen unter den Heiden hob er zum Himmel empor, die Ungläubigen unter den Juden hingegen ließ er ganz und gar vereinsamen und stürzte sie in endloses Elend.
Nachdem ihnen der Apostel ernstlich zu Gemüte geführt hatte, daß sie sich durch ihren Unglauben versündigt hatten, wie auch, was sie dafür in der Vergangenheit zu erleiden gehabt und in der Zukunft noch würden zu erleiden haben, stimmt er seine Rede wieder auf einen milderen Ton, indem er schreibt:
V. 11: „Ich sage demnach: Sind sie etwa angestoßen damit sie (ganz) zu Falle kommen? Das sei ferne!“
— Paulus hat den Juden vor Augen gestellt, daß sie (wegen ihres Unglaubens) unsagbarem Elend verfallen seien; nun spricht er ihnen wieder Trost zu. Beachte dabei sein kluges Vorgehen! Als Anklage hat er S. d99 Prophetenworte angeführt, zur Tröstung bedient er sich eigener. Daß die Juden schwer gefehlt haben, will er sagen, wird niemand in Abrede stellen; aber laßt uns sehen, ob diese Verfehlung untilgbar ist und keine Verbesserung zuläßt! Nein, so liegt die Sache nicht. — Siehst du, wie er ihnen wieder zu Herzen redet und ihnen in Erwartung des Trostes ihre zugestandenen Verfehlungen nochmals vor Augen hält? — Laßt uns sehen, was er ihnen zum Troste zu sagen weiß! Worin besteht der Trost? — Wenn einmal die Vollzahl der Heiden, meint er, zum Glauben gekommen sein wird, dann wird auch Israel das Heil erlangen. Das wird der Fall sein zur Zeit der zweiten Ankunft (Christi) und des Weltendes. Aber sofort sagt er das nicht, sondern erst nachdem er sie scharf angelassen, nachdem er eine Anklage auf die andere gesetzt, einen Propheten nach dem andern angeführt hat, die alle gegen sie ihre Stimme erheben: den Jesaias, den Elias, den David, den Moses, den Oseas, einmal, zweimal und noch öfter. Er will aber die Juden dadurch nicht in Verzweiflung stürzen und ihnen den Weg zum Glauben nicht verlegen; andererseits will er die gläubig gewordenen Heiden nicht zum Hochmut verleiten, weil sie dadurch die Predigt des Glaubens schädigen könnten; darum tröstet er nun wieder die Juden, indem er spricht:
„Sondern durch ihren Fall ward den Heiden das Heil.“
— Wir dürfen diese Worte nicht einfach hören, sondern müssen auch die Absicht und das Ziel dessen, der sie spricht, erfassen und was er damit ausdrücken will. Dazu ermahne ich euch ja immer, meine Lieben. — Wenn wir das Gesagte in diesem Sinne nehmen, dann werden wir sehen, daß keine Schwierigkeit darin liegt. Was der Apostel jetzt beabsichtigt, ist, die Überhebung der Heidenchristen, die etwa aus dem Gesagten erfolgen könnte, niederzuhalten; sie sollten Bescheidenheit lernen und auf diese Weise um so sicherer dem Glauben erhalten bleiben. Die Juden wieder sollten der Verzweiflung entrissen werden und um so hoffnungsfreudiger sich der Gnade zuwenden. Diesen Zweck im Auge, wollen wir hören, was an dieser Stelle gesagt ist. Was S. d100 sagt also der Apostel? Woher nimmt er den Erweis, daß die Juden nicht rettungslos gefallen seien und nicht bis ans Ende ausgestoßen sein werden? Im Hinblick auf die Heiden sagt er:
„Durch ihren Fall ward den Heiden das Heil, um jene zur Eifersucht zu reizen.“
Das ist nicht bloß ein Wort von ihm, sondern auch die Parabeln in den Evangelien wollen dasselbe sagen. Auch der Mann, der seinem Sohne Hochzeit hielt, rief die an den Wegen herein, nachdem die Geladenen nicht kommen wollten 1. Und der den Weingarten gepflanzt hatte, übergab ihn andern, nachdem seine Winzer den Erben ermordet hatten 2. Auch ohne Gleichnis hat Christus selbst gesagt: „Ich bin gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ 3. Ja, als die Syro-Phönizierin ihm mit flehentlichem Bitten zusetzte, sagte er zu ihr noch etwas mehr: „Es ist nicht recht, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden zu geben“ 4. Und Paulus sprach zu den aufrührerischen Juden: „Zu euch mußte zuerst das Wort Gottes gesprochen werden; da ihr euch aber (des ewigen Lebens) nicht wert achtet, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden“ 5.