5.
Damit du das Gesagte an einem Beispiele ersiehst, so betrachte die Rebekka, wie sie in Aufregung hin und herlief, als ihr älterer Sohn dem jüngeren Krieg ansagte. Wenn sie auch den Jakob liebte, so wandte sich ihr Herz doch auch von Esau nicht ab; darum sagte sie: „O, daß ich doch nicht beider Söhne an einem Tage beraubt würde!“ 1 Und deswegen sprach auch Gott damals (zu Kain): „Du hast gesündigt; sei ruhig und sündige fernerhin nicht mehr!“ Damit wollte er den Mord verhindern und den Frieden zwischen beiden erreichen. Als aber nachher Kain seinen Bruder doch getötet hatte, ließ Gott trotzdem nicht ab von der Fürsorge um ihn, sondern er machte dem Brudermörder wieder nur einen milden Vorwurf, indem er sprach: „Wo ist Abel, dein Bruder?“ 2 Er wollte ihn dadurch zum Eingeständnis bringen. Doch Kain war noch widerspenstiger als vorher und noch frecher und unverschämter. Aber auch dann ließ Gott nicht nach, sondern wieder erhebt er seine Stimme und spricht wie einer, der für seine Liebe noch geschmäht und verachtet wird: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir“ 3. Und dann trifft S. d174 er zugleich mit dem Mörder auch die Erde mit seinem Fluche und läßt seinen Zorn nach Art von Leuten, die ihr Unglück bejammern, an ihr aus: „Verflucht sei die Erde, die ihren Mund auf getan hat, um das Blut deines Bruders zu trinken“ 4. So machte es auch David, als Saul gefallen war. Auch er fluchte den Bergen, die Sauls Blut getrunken hatten, indem er ausrief: „Ihr Berge von Gelboë, nicht falle auf euch Tau noch Regen, weil da weggeworfen ward der Schild der Mächtigen“ 5. So stimmt auch Gott gewissermaßen eine Totenklage an und ruft: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir, und nun seist du verflucht wegen der Erde, die ihren Mund aufgetan hat, das Blut deines Bruders von deiner Hand zu trinken.“ Das sagte er, um Kains glühenden Zorn zu kühlen und ihn wenigstens jetzt erst zur Liebe zu bewegen. Du hast das Leben (deines Bruders) ausgelöscht, will er sagen; was löschest du nicht auch die Feindschaft gegen ihn aus? Was soll Gott mit dem Kain tun? Er liebt ihn ja auch; denn er hat beide erschaffen. Was also? Soll er den Mörder ungestraft dahingehen lassen? Aber dann wird er noch schlechter. Soll er ihn strafen? Aber da ist er wieder liebevoller als ein Vater. Sieh, wie er straft und dabei zugleich seine Liebe zeigt; oder vielmehr er straft nicht, sondern sucht nur zu bessern. Er tötet den Kain nicht, sondern er lähmt ihn nur durch Furcht. Auf diese Weise soll er seiner Schuld ledig werden, er soll zur Liebe gegen seinen Bruder kommen, er soll sich mit ihm noch nach seinem Hingange versöhnen. Denn Gott wollte nicht, daß er als Feind des Toten von hinnen gehe. So machen es die Liebenden. Wenn sie trotz aller erwiesenen Wohltaten nicht geliebt werden, so setzen sie ihre Versuche doch fort, sie werden heftig und drohen, ungern zwar, aber von der Liebe fortgerissen; sie wollen auf diese Weise die an sich ziehen, welche sie mißachten. Eine solche Liebe ist freilich einigermaßen erzwungen; aber die Größe ihrer eigenen Liebe läßt die Liebenden darüber hinwegsehen. Auch die Strafe ist eine Folge der S. d175 Liebe. Denn, die sich nichts daraus machen, gehaßt zu werden, die greifen auch nicht zur Strafe. Höre nur, wie auch Paulus dies in seinem Schreiben an die Korinther ausdrückt: „Wer ist es“, sagt er „der mir Freude macht, wenn nicht einer, der durch mich betrübt worden ist?“ 6 So kommt es, daß gerade eine gesteigerte Strafe ein besonderer Beweis von Liebe ist. So hat auch die Ägypterin, gerade weil sie Joseph so heftig liebte, ihn auch recht schwer gestraft. Freilich tat es jene in böser Absicht; denn ihre Liebe war eine solche sinnlicher Leidenschaft. Gott aber tat es in guter Absicht; denn seine Liebe mußte ja des Liebenden würdig sein. Darum läßt er sich sogar dazu herab, grob deutliche Redensarten zu gebrauchen, auf sich die Benennungen menschlicher Leidenschaften anzuwenden und sich „eifersüchtig“ zu nennen. „Ich bin ein eifersüchtiger Gott“ 7, spricht er. Daraus sollst du das Übermaß der Liebe ersehen.
Laßt uns also Gott lieben, wie er es will! Er hält dies für eine hochwichtige Sache. Wenn wir uns von ihm abwenden, so fährt er doch fort, uns zu rufen; wenn wir uns trotzdem nicht zu ihm wenden wollen, so straft er uns aus lauter Liebe, nicht um sich an uns zu rächen. Höre nur, was er bei Ezechiel zu der von ihm so sehr geliebten Stadt (Jerusalem), die seine Liebe mißachtete, spricht: „Deine Buhler will ich über dich kommen lassen und will dich in ihre Hände geben, und sie werden dich steinigen und morden; und mein Eifer wird von dir ablassen, und ich werde aufhören und mich nicht mehr kümmern“ 8. Was könnte ein Liebhaber anders sagen, der, von seiner Geliebten verschmäht, daraufhin noch mehr in Liebe zu ihr entbrennt? Gott tut ja alles mögliche, um von uns geliebt zu werden. Er hat deswegen nicht einmal seines Sohnes geschont. Aber wir sind gefühllos und hart. Aber laßt uns einmal weich werden, laßt uns Gott lieben, wie wir ihn lieben sollen, damit wir zugleich auch verkosten, wie süß diese Tugend ist! Denn wenn schon jemand, der ein geliebtes Weib hat, S. d176 die Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens für nichts achtet, bedenke, welch süße Freude der genießen mag, den diese reine Gottesliebe beseelt! Sie ist ja das Himmelreich, sie ist wahrer Genuß, sie ist süße Wonne, sie ist Frohsinn, sie ist Freude, sie ist Glückseligkeit; ja, was ich auch immer sagen mag, ich bin nicht imstande, einen rechten Begriff von ihr zu geben; die eigene Erfahrung allein kann uns ihre Schönheit verstehen lassen. Darum sagt der Prophet: „Schwelge im Genusse des Herrn!“ und: „Verkostet und sehet, wie süß der Herr ist!“ 9
Laßt uns also (dieser Einladung) folgen und schwelgen in der Liebe Gottes! So werden wir das Himmelreich schon hienieden schauen, ein Leben nach Art der Engel führen, noch auf der Erde weilend nicht weniger haben als die Himmelsbewohner, nach unserem Hingange herrlicher als alle vor dem Richterstuhl Christi stehen und unsägliche Herrlichkeit genießen. Diese möge uns allen zuteil werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre sei in alle Ewigkeit. Amen. S. d177