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Und damit niemand meine Rede einer Übertreibung beschuldige, so möchte ich gerne eine Frage an euch stellen. Wenn jemand Feuer und eine Hacke nähme und dieses (Gottes-) Haus anzündete und den Altar zerstörte, würde ihn nicht jedermann von den Anwesenden mit Steinwürfen davonjagen als einen Verbrecher und Frevler? Was nun, wenn jemand eine noch gefräßigere Flamme als gewöhnliches Feuer — ich meine den Neid — hereinbringt, eine Flamme, die zwar nicht Häuser aus Steinen zerstört und einen goldenen Altar zernichtet, dafür aber etwas Kostbareres als die Mauern und den Altar zerstört und verwüstet, das von unseren Lehrern aufgerichtete (geistige) Gebäude, wie soll der einer Verzeihung würdig sein? Es wende mir niemand ein: Er versucht es öfter nur, bringt es aber nicht zustande. Nach der Absicht wird die Tat beurteilt. So hat auch Saul den David getötet, wenngleich es ihm nicht gelang. Bedenkst du denn nicht, frage ich, daß du den Schafen Christi nachstellst, wenn du dem Hirten Krieg ansagst, jenen Schafen, für die Christus sein Blut vergossen hat, und für die er uns (Hirten) alles zu tun und zu leiden befahl? Denkst du denn nicht daran, daß dein S. b118 Herr deine Ehre gesucht hat und nicht die seinige, du aber nicht die Ehre deines Herrn suchst, sondern deine eigene? Und doch, wenn du seine suchtest, dann würdest du auch deine finden; suchst du aber deine statt seine, wirst du niemals auch jene genießen.
Welches Heilmittel gibt es nun dafür? — Wir wollen alle gemeinsam beten und einmütig für sie unsere Stimme erheben, wie für die Besessenen 1. Sie sind ja um so viel schlimmer daran als diese, als ihre Raserei eine freiwillige ist. Gebet braucht diese Krankheit und viel Fürbitte. Denn wenn schon der, welcher seinen Bruder nicht liebt, wenn er auch sein Vermögen hingibt, wenn er auch im Glanz der Märtyrerkrone erstrahlt, doch nichts Besonderes gilt, bedenke, welcher Strafe der würdig sein wird, welcher gegen einen andern feindselig auftritt, der ihm gar kein Unrecht zugefügt hat! Ein solcher ist schlechter als die Heiden. Denn wenn wir schon vor diesen nichts voraus haben, wenn wir bloß die lieben, welche uns lieben, wo, sag’ mir, wird erst der seinen Platz bekommen, welcher die mit Mißgunst verfolgt, welche ihn lieben? Sogar schlimmer als Kriegführen ist das mißgünstige Verfolgen. Denn wer Krieg führt, steht davon ab, sobald die Ursache des Krieges geschwunden ist. Der Mißgünstige dagegen wird nie zum Freunde. Der Kriegführende geht offen vor, der Mißgünstige versteckt; jener hat oft einen plausiblen Grund zum Kriege, dieser keinen andern als Wut und teuflische Gesinnung. Womit soll man eine solche Seele vergleichen? Mit welcher Schlange? mit welcher Natter? mit welchem Wurme? mit welchem Insekt? Es gibt nichts Verworfeneres, nichts Schlechteres als eine solche Seele. Das, ja das ist es, was die kirchlichen Gemeinden verwüstet, was die Glaubensspaltungen erzeugt, was die Bruderhand (des Kain) bewaffnet und sie mit dem Blute des Gerechten benetzt und die Gesetze der Natur nicht geachtet und dem Tode die Tore geöff- S. b119 net und jenen Fluch verwirklicht hat und jenen Unseligen nicht denken ließ, weder an die gemeinsame Abstammung noch an die Eltern noch an etwas anderes sondern ihn so in Wut versetzte und zu solcher Raserei antrieb, daß er auch dem Rufe Gottes nicht nachgab, der sprach: „Er soll nach dir sich wenden, und du sollst über ihn herrschen“ 2. Und wiewohl er ihm die Sünde nachließ und den Bruder ihm unterstellte, blieb doch diese Krankheit so unheilbar, daß ihr Gift trotz aller möglichen Heilmittel hervorbrach. Weswegen grämst du dich dann (Kain), du unseligster unter allen Menschen? Daß Gott geehrt wird? Aber das ist ja teuflisches Denken. Oder daß dein Bruder bei ihm in Gunst steht? Aber es liegt ja an dir, ihn darin noch einzuholen. Willst du ihn (im Wettstreit) besiegen, so töte ihn doch nicht; schaffe ihn nicht aus dem Wege, sondern laß ihn leben, damit dir die Möglichkeit eines Wettstreites bleibe, und trage den Sieg davon über deinen lebenden Nebenbuhler. So wird dir eine strahlende Siegeskrone werden. Tötest du ihn aber, so erklärst du dich damit selbst als Überwundener. Doch von all dem will der Neid nichts wissen. Was strebst du nach Ehre in solcher Einsamkeit? Sie waren ja die einzigen zwei, die damals die Erde bewohnten. Doch nichts von all dem hielt ihn zurück. Das alles schlug er sich aus dem Sinn und trat auf die Seite Satans zum Kampfe; denn dieser war neben Kain damals der Führer im Kampfe. Nicht genug daran, daß der Mensch zum Sterben verurteilt war, suchte er durch die Art des Todes das Schauspiel noch tragischer zu machen und überredete zum Brudermorde. Er, der niemals genug Elend auf uns gehäuft sieht, trieb und drängte, daß der Richterspruch ins Werk gesetzt werde. Wie jemand, der seinen Feind gefesselt und zum Tode verurteilt sieht, darnach lechzt, ihn noch, bevor er aus der Stadt hinausgeführt wird, drinnen tot zu sehen und die Zeit (bis zur Ausführung des Urteils) nicht erwarten kann, so machte es damals der Teufel. Trotzdem er gehört hatte, daß der Mensch zur Erde zurückkehren werde, gelüstete es S. b120 ihn doch, noch etwas mehr zu sehen: den Sohn früher gestorben als der Vater, den Bruder als den Mörder des Bruders, einen vorzeitigen, gewaltsamen Tod.