9.
Versetz’ ihm also nicht auch du noch eine, stürz’ dich nicht zugleich mit ihm ins Verderben! Solange du selbst stehst, wirst du auch ihm noch aufhelfen können; wenn du aber auch zu Fall gekommen bist durch Zurückgeben der Schmährede, wer wird euch dann mehr aufhelfen? Der andere, so verwundet, wie er ist? Aber er liegt ja am Boden und kann nicht. Oder etwa du, der du mit ihm gefallen bist? Wie sollst du einem andern die Hand reichen können, da du sie dir selbst nicht reichen kannst? Bleib also wacker aufrecht stehen, halte den Schild vor und zieh’ durch Langmut den Toten aus dem Schlachtgetümmel. Der Zorn hat ihm eine Wunde geschlagen? Schlag ihm nicht auch noch eine, sondern leg zuerst deine Wehr beiseite! Wenn wir uns gegeneinander so benehmen, so wird uns bald allen geholfen sein. Wenn wir aber gegeneinander die Waffen ergreifen, dann braucht es keinen Teufel mehr zu unserm Verderben. Jeder Krieg ist verderblich, am meisten aber der Bürgerkrieg. Unser Krieg ist aber noch verderblicher als der Bürgerkrieg, um soviel mehr, als die Gesetze, die uns zu einer Gemeinde, ja zu einer Mühe vereinigen, erhabener sind. Einst hat den Abel sein Bruder getötet und hat Bruderblut vergossen; aber der Mord, von dem ich rede, ist ein um so größeres Verbrechen, als unsere Verwandtschaft näher und der Tod, um den es sich handelt, ein solcher schlimmerer Art ist. Kam traf den Leib (seines Bruders), du aber zückst das Schwert gegen die Seele. Aber (sagst du), du mußtest zuvor Unrecht leiden? Nicht Unrecht leiden, S. b153 sondern Unrecht tun, das heißt in Wahrheit Unrecht leiden. Sieh nur: Kain war der Mörder, Abel der Gemordete. Und doch, wer war der eigentlich Tote? Der, welcher nach seinem Tode noch schrie — es heißt ja: „Das Blut deines Bruders Abel schreit zu mir“ 1 — oder der, welcher zwar lebte, aber in Zittern und Beben? Fürwahr, dieser letztere war bedauernswerter als jeder Tote. Siehst du also, wie es besser ist, ein Unrecht zu leiden, und sollte es auch den Tod bringen? Da lerne erkennen, wie es schlimmer ist, ein Unrecht zu tun, und sollte es gleich bis zum Blutvergießen gelingen. Kain hat seinen Bruder niedergeschlagen, er hat ihn aus dem Wege geräumt, ja; aber dieser wurde gekrönt, jener bestraft. Abel wurde ungerechterweise hingeschlachtet, aber im Tode noch wurde er zum Ankläger, zum Sieger, zum Bezwinger. Der Überlebende verstummte, ward beschämt und geschlagen und erreichte das Gegenteil von dem, was er wollte. Er tötete ihn, weil er ihn (von Gott) geliebt sah, in der Meinung, er werde ihm dadurch auch die Liebe rauben. Doch im Gegenteil, noch größeren Liebeserweis rief er hervor; Gott fragte nach dem Toten nur noch mehr, wenn er sprach: „Wo ist dein Bruder Abel?“ 2 Nicht ausgelöscht hast du (will Gott sagen) die Liebe durch deinen Neid, sondern angefacht; nicht gemindert hast du seine Ehre durch deinen Mord, sondern gemehrt. Früher hatte ihn Gott dir untergeordnet (als den jüngeren Bruder), nachdem du aber getötet hast, nimmt er als Toter Rache an dir; so groß war meine Liebe zu ihm. Wer war also da der Gerichtete? Der Strafer oder der Gestrafte? Der, welcher solcher Ehre genoß von Gott, oder der, welcher einer neuartigen und sonderbaren Strafe überliefert wurde? Solange er lebte, spricht Gott gleichsam, hast du deinen Bruder nicht gefürchtet, fürchte ihn jetzt, da er tot ist! Du hast nicht gezittert, als du daran warst, ihm das Schwert hineinzustoßen; von immerwährendem Zittern seist du befallen, nachdem du sein Blut vergossen! Bei seinen Lebzeiten war er dein Sklave, und doch wolltest S. b154 du ihn nicht leiden; darum mußte er sterben, und nun ist er dein furchtbarer Herr! Laßt uns das beherzigen, Geliebte, laßt uns fliehen den Neid, auslöschen die Bosheit, uns gegenseitige Liebe erweisen, damit wir die Früchte davon ernten im gegenwärtigen Leben wie auch im zukünftigen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit! Amen. S. b155