3.
In welchem Sinne ist nun hier das Wort „Sünder“ zu verstehen? Mir will scheinen, es sei im Sinne von „der Strafe verfallen“, „dem Tode überantwortet“ zu nehmen. Daß wir alle durch den Tod Adams sterblich geworden sind, hat der Apostel klar und ausführlich dargelegt. Es fragt sich aber, warum das geschehen ist. Die Antwort darauf gibt er hier noch nicht; denn es dient ihm nicht zu seinem gegenwärtigen Zwecke. Er kämpft nämlich gegen den Juden, der die Rechtfertigung durch den einen bezweifelt und belächelt. Darum weist er darauf hin, daß auch die Strafe von einem auf alle übergegangen sei; warum das geschehen ist, setzt er nicht mehr dazu. Er sagt nämlich nichts Überflüssiges, sondern hält sich nur an das Notwendige. Nach den Regeln der Disputation war er nicht verpflichtet, mehr zu antworten, als der Jude gefragt hatte; darum läßt er die Frage ungelöst. Sollte es aber jemand von euch wissen wollen, so sage ich soviel, daß wir von diesem
S. b177 Tode und dieser Verurteilung her nicht bloß keinen Schaden, sondern, wenn wir näher zuschauen, noch Gewinn davon haben, daß wir sterblich geworden sind; fürs erste, daß wir nicht in einem unsterblichen Leibe sündigen; dann, daß wir dadurch unzählige Möglichkeiten haben, die Tugend zu üben. Denn der Tod, der uns vor Augen steht und erwartet wird, lehrt uns, mäßig, enthaltsam, abgetötet zu sein, und uns freizumachen von jeglicher Bosheit. Dann — eigentlich in erster Linie — hat uns der Tod noch mehr Gutes gebracht. Ihm danken wir die Kronen der Märtyrer, die Siegespreise der Apostel. So ward Abel gerecht, so Abraham, der entschlossen war, seinen Sohn zum Schlachtopfer zu bringen, so Johannes, der um Christi willen getötet wurde, so die drei Jünglinge im Feuerofen, so Daniel. Ja, wenn wir ernstlich wollen, kann uns nicht bloß der Tod, sondern selbst der Teufel nicht schaden. Außerdem muß auch das gesagt werden, daß Unsterblichkeit unser harrt und daß wir nach einer kurze Zeit währenden Tugendschule ohne Harm der zukünftigen Güter genießen werden. Wie in einer Schule werden wir ja in diesem gegenwärtigen Leben durch Krankheit und Trübsal und Versuchungen und Armut und andere scheinbare Übel dazu erzogen, einmal fähig zu werden, die zukünftigen ;Güter aufzunehmen.
V. 20: „Das Gesetz aber kam dazu, damit die Übertretung sich noch mehre.“
— Bisher hat der Apostel dargelegt, daß von Adam die Verdammung der ganzen Menschheit, von Christus dagegen ihre Rettung und Befreiung von der Verdammnis ausgegangen sei. Nun wendet er sich passend wieder der Betrachtung des Gesetzes zu und benimmt die hohe Meinung davon. Er sagt: Es brachte nicht nur keinen Nutzen, keine Hilfe, sondern verschlimmerte die Krankheit noch durch sein Hinzukommen. Das „damit“ drückt hier nicht eine Absicht aus, sondern eine Folge. Es wurde ja nicht in der Absicht gegeben, damit es die Sünden vermehre, sondern damit es sie mindere und zum Aufhören bringe. Die Folge war aber das Gegenteil, und zwar ging dieselbe nicht aus der Natur des S. b178 Gesetzes hervor, sondern aus der Leichtfertigkeit derer, die es empfingen. — Warum sagt der Apostel nicht, „das Gesetz wurde gegeben“, sondern „das Gesetz kam dazu“? Er wollte dadurch ausdrücken, daß das Bedürfnis nach demselben nur ein zeitweiliges, nicht ein für immer bestehendes und absolutes sei. Dasselbe drückt er auch im Briefe an die Galater in einer anderen Form aus: „Bevor der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetze bewacht gehalten, eingeschlossen bis zur zukünftigen Offenbarung des Glaubens“ 1. Also nicht für sich selbst, sondern für einen anderen Zweck hat das Gesetz die Herde bewacht. Weil nämlich die Juden ideallose, im Irdischen aufgehende Menschen waren, die immer nur (zeitliche) Gaben haben wollten, so wurde ihnen das Gesetz gegeben, damit es ihnen mehr die Augen öffne, ihnen über ihren wahren Zustand eine klarere Einsicht bringe, sie noch mehr anklage und so besser im Zügel halte. Jedoch sei ohne Furcht! Nicht um die Strafe zu vergrößern, ist dies geschehen, sondern dazu, daß die Gnade mehr erstrahle. Darum fährt der Apostel fort:
„Wo aber die Sünde sich mehrte, da war die Gnade noch weit überströmender.“
Er sagt nicht „sie war überströmend“, sondern „weit überströmend“. Denn sie machte nicht nur frei von Strafe, sondern auch von Sünden und brachte Leben und die von mir oft genannten Güter. Es ist mit ihr so, wie wenn jemand einen Fieberkranken nicht bloß von seiner Krankheit befreite, sondern ihm auch ein blühendes Aussehen gäbe, ihn stark und ansehnlich machte; oder wie einer einen Hungernden nicht bloß speiste, sondern ihn zum Herrn von viel Vermögen und zu einem hochmächtigen Manne machte. —Und in welchem Sinne meinte es der Apostel, wenn er sagt: „Die Sünde mehrte sich“? Das Gesetz gab unzählige Vorschriften; da nun die Juden diese alle übertraten, so mehrte sich die Übertretung. Erkennst du nun den Unterschied zwischen der Gnade und dem Gesetz? Dieses trug bei zur Ver- S. b179 größerung der Schuld und Strafe, diese zur Mehrung der (göttlichen) Gaben.
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Gal. 3, 23. ↩