2.
Siehst du da, wie der Apostel einmal auf bereits geschenkte Dinge hinweist, das anderemal auf solche, die noch Gegenstand der Hoffnung sind, und wie er mit Berufung auf die bereits geschenkten den Glauben an die zukünftigen begründet, nämlich durch Hinweis auf die Heiligung den Glauben an das (ewige) Leben? Damit man nämlich nicht einwende, daß alle diese Dinge bloß Gegenstand der Hoffnung seien, weist er auf bereits gepflückte Früchte hin: Zuerst auf die Befreiung von der Sünde und allen jenen Übeln, deren bloße Erinnerung schon schamrot macht; zweitens auf die Aufnahme in den Dienst der Gerechtigkeit; drittens auf den Genuß der Heiligung; viertens auf die Erlangung des Lebens, und zwar nicht eines zeitlichen, sondern ewigen Lebens. Aber trotz alledem, will er sagen, seid wenigstens nur gleich eifrig im Dienste. Wenn auch der Herr (dem ihr dient) ein viel vornehmerer ist, wenn auch ein großer Unterschied im Dienste selbst und in dem Lohn, für den ihr dient, besteht, so verlange ich doch bislang nicht mehr Diensteifer. — Da er vorher von Waffen und einem Könige gesprochen hat, bleibt er bei dieser Redefigur und fährt fort:
V. 23: „Der Sold der Sünde ist der Tod; die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.“
— Der Apostel spricht von einem „Sold der Sünde“; wo er aber von Heilvollem spricht, bleibt er nicht bei dieser Redeweise. Er sagt nicht: Der Lohn eurer guten Werke, sondern: „Die Gnadengabe Gottes.“ Er gibt damit zu verstehen, daß sie nicht aus eigener Kraftanstrengung erlöst worden seien, daß sie die Erlösung nicht als einen schuldigen Lohn empfangen haben noch auch als eine Vergeltung und Gegengabe für geleistete Arbeit, sondern daß alles aus Gnade geschehen sei. Daraus ist das Übermaß (der Liebe Gottes) ersichtlich, daß er (die Menschen) nicht bloß erlöst, daß er sie nicht bloß in eine bessere Lage versetzt hat, sondern daß er es ohne ihr Zutun, ohne ihre Anstrengung getan hat; ja er hat sie nicht bloß erlöst, sondern er hat ihnen noch viel bessere Dinge geschenkt, und alles das einzig um S. b215 seines Sohnes willen. — Das alles gibt der Apostel nebenbei zu verstehen, wenn er von der Gnade spricht und das Gesetz für die Zukunft abgeschafft wissen will. Damit aber diese beiden Wahrheiten die Zuhörer nicht leichtsinnig machen, streut er immer wieder Ermahnungen ein über die Pflicht, ein geordnetes Leben zu führen, und hält sie immerfort zum Tugendstreben an. So auch wenn er den Tod „den Sold der Sünde“ nennt; damit schreckt er sie auch und feit sie gegen zukünftige Gefahren. Dadurch, daß er sie an frühere Wohltaten erinnert, macht er sie dankbar und sicherer allen bevorstehenden Gefahren gegenüber.
Nun bricht der Apostel seine Rede über sittliche Besserung ab und geht wieder über auf das Gebiet der Glaubenslehren, wenn er sagt:
Kap. VII, V. 1: „Oder wisset ihr nicht, Brüder — ich spreche ja zu solchen, die das Gesetz kennen —.“
— Nachdem der Apostel gesagt hat, daß wir der Sünde abgestorben sind, setzt er an dieser Stelle (seinen Zuhörern) auseinander, daß über sie nicht bloß die Sünde nicht mehr Herr sei, sondern auch nicht das Gesetz. Wenn aber das Gesetz nicht Herr ist, dann um so weniger die Sünde. Der Apostel schlägt einen milderen Ton an und macht seinen Gegenstand durch ein Beispiel aus dem menschlichen Leben klar. Scheinbar führt er einen Beweisgrund für die in Rede stehende Wahrheit an, in Wirklichkeit sind es deren zwei. Der eine ist, daß nach dem Tode des Mannes die Frau nicht mehr dem Gesetze des Mannes untersteht und daß sie nichts hindert, das Weib eines andern zu werden; der zweite, daß hier nicht bloß der Mann als gestorben angenommen wird, sondern auch das Weib; dieses erfreut sich dann aus zweifachem Grunde der Freiheit. Denn wenn sie durch den Tod des Mannes von dessen Gewalt frei wird, so wird sie um so mehr frei, wenn sie selbst tot erscheint. Denn wenn sie eines dieser beiden Geschehnisse von der Gewalt befreit, so um so mehr, wenn beide zusammentreffen. Im Begriffe, zu diesem Beweise überzugehen, beginnt er mit einem Lobe seiner Zuhörer, indem er sagt: „Oder wisset ihr etwa nicht, Brüder? Ich S. b216 spreche ja zu solchen, die das Gesetz kennen.“ D. h. ich spreche eine sichere und allgemein anerkannte Wahrheit aus, die euch ganz genau bekannt ist:
„Daß das Gesetz über den Menschen Herr ist, solange er lebt.“
Er sagt nicht: über den Mann oder über das Weib, sondern: „über den Menschen“, das ist der gemeinsame Name für beide Geschlechter. „Wer gestorben ist“, heißt es, „der ist gerechtfertigt von der Sünde“ 1. Also das Gesetz gilt nur für die Lebenden, die Verstorbenen verpflichtet es nicht mehr. Siehst du, wie er eine zweifache Freiheit zum Ausdruck bringt? — Nachdem er dies in den einleitenden Worten angedeutet hat, bringt er die Rede auf das Weib im Beweise, indem er fortfährt:
V. 2: „Denn das Weib, das unter einem Manne steht, ist dem Manne, solange er lebt, verbunden durch das Gesetz; wenn aber der Mann stirbt, wird sie frei von dem Gesetze des Mannes.“
V. 3: „Demnach heißt sie zu Lebzeiten ihres Mannes eine Ehebrecherin, wenn sie einem andern Manne sich verbindet; wenn aber ihr Mann stirbt, so ist sie frei von dem Gesetze, so daß sie keine Ehebrecherin ist, wenn sie einem andern Manne sich verbindet.“
— Der Apostel wendet das angezogene Beispiel hin und her und erörtert es mit großer Genauigkeit; denn er verspricht sich von ihm große Beweiskraft. Der Mann bedeutet nach ihm das Gesetz, das Weib die Gesamtheit der Gläubigen. Er zieht aber nicht den Schluß, der dem Vordersatz entsprechen würde. Folgerichtig hätte er sagen müssen: Also, meine Brüder, ist das Gesetz nicht Herr über euch; denn es ist gestorben. Sa sagt er aber nicht, sondern er läßt es bei der Andeutung, die der Vordersatz enthält, bewenden. In der Schlußfolgerung nimmt er das Weib als gestorben an, um nicht seine Rede (für die Juden) verletzend zu S. b217 machen, indem er sagt: „Demnach, meine Brüder, seid auch ihr tot geworden für das Gesetz.“
Es ist ja gleichgültig, ob das eine oder das andere geschieht; beides gewährt dieselbe Freiheit. Was hindert darum den Apostel, dem Gesetze zu Gefallen zu reden, da ja die Sache selbst dabei keinen Schaden leidet? „Denn das Weib, das unter einem Manne steht, ist dem Manne, solange er lebt, verbunden durch das Gesetz.“ Wo sind nun die Nörgler am Gesetze? Sie sollen hören, wie der Apostel auch da, wo für ihn eine Nötigung dazu vorliegt, doch die Würde des Gesetzes nicht herabsetzt, sondern sich über die Gewalt desselben mit Hochachtung ausspricht, wenn er sagt, daß der Jude durch dasselbe gebunden ist, solange es am Leben ist, und daß Ehebrecher diejenigen heißen, welche es übertreten und außer acht lassen, solange es am Leben ist. Freilich, wenn man es verläßt, nachdem es gestorben ist, so ist das kein Wunder. Auch in menschlichen Verhältnissen wird nicht getadelt, wer das tut. „Wenn aber der Mann stirbt, wird sie frei von dem Gesetze des Mannes.“
-
Röm. 6, 7. ↩