II.
Denn nicht dein Verdienst ist es, sondern Gottes Gnade. Nennst du mir den Glauben, so hast du ihn durch die Berufung; und nennst du die Nachlassung der Sünden, die Wundergaben und das Lehramt: Alles hast du von dorther empfangen. Sage mir also, was besitzest du denn, das du nicht empfangen, sondern aus eignem Verdienste erworben hättest? Nichts hast du aufzuweisen, sondern Alles hast du empfangen; — und darauf bist du stolz? S. 193 Eben darum solltest du ja demüthig sein: denn das Gegebene ist ja nicht dein, sondern des Gebers. Wenn du es empfangen hast, so hast du es von ihm; und haft du es von ihm, so ist es nicht dein; und ist es nicht dein, warum bist du stolz, als wäre es, dein Eigenthum? Darum sagt er weiter: „Wenn du es aber empfangen hast, warum prahlest du, als hättest du es nicht empfangen?“ Nachdem er so durch gehäufte Fragen den Beweis geführt hat, zeigt er, daß ihnen noch Vieles abgehe, und sagt: Wenn ihr auch vorzugsweise Alles empfangen hättet, so dürftet ihr dennoch nicht prahlen; denn Nichts ist euer; ja es fehlt euch noch Vieles. Dieses deutete er Anfangs mit den Worten an: „Ich konnte zu euch nicht wie zu Geistigen sprechen“ und: „Ich hatte mir vorgenommen, Nichts unter euch zu wissen, als Jesum Christum, und Diesen als den Gekreuzigten;“ hier aber beschämt er sie mit den Worten:
8. Schon seid ihr satt, schon seid ihr reich,
d. h. ihr bedürfet nun ferner Nichts mehr, ihr seid vollkommen geworden, ihr habt selbst den Gipfel erstiegen und wähnet nun, keine fremde Hilfe, keine Apostel, keine Lehrer mehr nöthig zu haben. „Schon seid ihr satt.“ Sehr treffend gebraucht er das „schon“, indem er aus der Zeit selber die Unwahrscheinlichkeit ihrer Behauptung und die Grundlosigkeit ihrer Einbildung darthut. Darum macht er sie lächerlich, indem er spricht: So schnell seid ihr an’s Ziel gekommen? was der Zeit nach unmöglich geschehen konnte. Denn das Vollkommene reift nur mit der Zeit. Mit Wenigem satt werden ist Beweis einer schwachen Seele; bei Wenigem sich schon für reich halten ist das Zeichen eines armen Geistes, der bald Eckel fühlt; denn die Frömmigkeit ist unersättlich, und es ist kindischer Sinn zu wähnen, man habe gleich Anfangs Alles empfangen, und, während man doch kaum erst begonnen hat, sich stolz einzubilden, man habe das Ziel schon erreicht. Noch mehr beschämt er S. 194 sie durch das Folgende; denn nach den Worten: „Schon seid ihr satt“ fährt er fort: „Schon seid ihr reich; ohne uns seid ihr Herrscher, und wollte Gott, daß ihr herrschtet, damit auch wir mit euch herrschten!“ Das sind gar ernste Wotte; deßhalb führt er sie auch erst zuletzt nach vielfacher Zurechtweisung an. Denn dadurch erhält die Ermahnung Gewicht und freundliche Aufnahme, daß das Beschämende erst auf die Anklage folgt. Das ist nämlich geeignet, selbst eine schamlose Seele zu bändigen, tiefer einzugreifen als eine offne Zurechtweisung, und den durch die Vorwürfe erzeugten Schmerz und Trotz zu heilen. Das Wunderbare aber an beschämenden Worten ist das, daß sie zwei Gegensätze vereinen, indem sie tiefer verwunden als offene Vorwürfe und dabei doch der Verwundete den heftigern Angriff geduldiger aushält.
„Ohne uns seid ihr Herrscher.“ Hierin liegt ein gewaltiger Nachdruck sowohl gegen die Lehrer als gegen die Schüler. Es wird da an den Tag gelegt, wie gewissenlos und wie thöricht sie seien. Er will nämlich sagen: In Betreff der Arbeit wollt ihr, daß wir mit euch Alles gemeinschaftlich haben; ist aber von Lohn und Kronen die Rede, da seid ihr die Ersten. Allein ich sage das nicht, als ob mich Dieses verdröße; darum setzt er auch bei: „Wollte Gott, daß ihr herrschtet!“ Und damit Dieses nicht als Spott erscheine, fügt er bei: „damit auch wir mit euch herrschten;“ dann würden auch wir, sagt er, dieser Güter theilhaftig werden. Siehst du, wie er zugleich Ernst, Sorgfalt und hohe Weisheit an den Tag legt? Siehe, wie er durch das Nachfolgende ihren Stolz demüthigt!
9. Denn mich dünkt, daß Gott uns Apostel als die Allerletzten, wie dem Tode Geweihte, hingestellt hat.
Er zeigt hier wieder viel Kraft und Nachdruck, indem S. 195 er sagt: „uns“. Und auch das genügte ihm nicht; er setzt, um sie tief zu beschämen, auch noch die Würde hinzu: „uns Apostel,“ sagt er, die wir tausend Widerwärtigkeiten ausstehen, die wir den Samen des Wortes Gottes ausstreuen, die wir euch zu einer so hohen Weisheit anleiten, „uns hat er als die Allerletzten, wie dem Tode Geweihte, d. h. wie Verurtheilte, hingestellt:“ Nachdem er gesagt: „damit auch wir mit euch herrschten,“ und so das Harte der Rede gemildert hat, wiederholt er, damit sie nicht gleichgiltig würden, dasselbe mit größerem Ernste und sagt: „Denn mich dünkt, daß Gott uns Apostel als die Allerletzten, wie dem Tode Geweihte, hingestellt hat.“ Denn wie ich sehe, sagt er, und wie ihr sagt, sind wir die Ehrlosesten von Allen und die Verurtheilten, da wir beständig den Leiden ausgesetzt sind; ihr aber besitzt in der Einbildung schon das Himmelreich und die Ehre und den Siegespreis. Da er aber das Ungereimte und in hohem Grade Unwahrscheinliche dieser Rede an den Tag legen will, sagt er nicht: Wir sind geradezu die Allerletzten, sondern: „Gott hat uns als die Allerletzten hingestellt.“ Und er begnügt sich nicht zu sagen: „als die Allerletzten,“ sondern setzt auch bei: „dem Tode Geweihte,“ damit auch der Unverständigste einsehen konnte, wie unwahrscheinlich die Behauptung sei, und daß er aus Schmerz Dieses rede und um sie zu beschämen.
