2.
So wenig er nun dadurch, daß er unsere guten Werke Charismen nennt, die freie Selbstbestimmung von unserer Seite ausschließt, sondern die freie Selbstbestimmung uns ungeschmälert beläßt: ebensowenig will er durch den Ausspruch, Gott wirke in uns das Wollen, uns der freien Selbstbestimmung berauben, sondern nur zeigen, daß wir durch die Übung des Guten eine große Lust und Liebe zum Wollen des Guten bekommen. Denn gleichwie aus der Tätigkeit die Tätigkeit entsteht, so aus der Untätigkeit die Untätigkeit. — Du hast Almosen gegeben? Du wurdest (dadurch) noch mehr angetrieben, zu geben. Du hast nicht gegeben? Du wurdest (dadurch) noch saumseliger. — Du hast dich einen Tag lang recht zusammengenommen? Da hast du Aufmunterung auch für den zweiten Tag. Du bist nachlässig gewesen? Da hast du die Nachlässigkeit noch gesteigert. Denn die Schrift sagt: „Wenn der Gottlose in den Abgrund der Sünden kommt, verachtet er's1. Gleichwie nun der Mensch, wenn er in den Abgrund des Schlechten stürzt, es nicht mehr achtet: so wird er, wenn er sich in den Abgrund des Guten versenkt, nur desto eifriger. Denn während der Sünder aus Verzweiflung immer träger wird, nimmt der Tugendhafte, im Hinblick auf die Menge des Guten, das er getan, immer mehr an Eifer zu, aus Furcht, er könnte alles verlieren. — „Nach seinem Wohlgefallen“, heißt es; das will sagen: aus Liebe, seiner Befriedigung wegen, damit seine Absichten erfüllt werden, damit alles nach seinem Willen geschehe. Damit zeigt uns der Apostel und flößt uns die Zuversicht ein, daß Gott unter allen Umständen in uns wirkt. Denn er will, daß wir nach seinem Willen leben. Will er es aber, ist er aber zu diesem Zwecke selber in uns tätig, so wird er dies auch unter allen Umständen bewirken; denn er will, daß wir recht leben. Siehst du, wie der Apostel die freie Selbstbestimmung S. 124 nicht aufgehoben wissen will? — Dieses „alles“, fährt er fort, „tuet ohne Murren und Bedenken!“ Wenn der Teufel uns von der Übung des Guten nicht abbringen kann, so sucht er uns auf andere Weise um den Lohn zu betrügen. Entweder nämlich er flüstert uns Eitelkeit oder Hochmut ein, oder, wenn nichts davon, Murren, oder, wenn das nicht, Bedenken. Sieh nun, wie Paulus diese Fehler auszurotten sucht! Er sprach von der Demut, in allem, was er sagte, bestrebt, den Hochmut zu beseitigen; er sprach von der Eitelkeit, ich meine (die Stelle): „nicht nur in meiner Anwesenheit“; hier redet er vom Murren und von der Bedenklichkeit. — Warum hat er denn nun, um bei den Korinthern diesen Fehler abzustellen, auch auf das Beispiel der Israeliten2 verwiesen, während er hier nichts dergleichen anführt, sondern einfach bloß vorschreibt? Weil dort das Übel bereits aufgetreten war; darum bedurfte es seinerseits einer größeren Eindringlichkeit und eines kräftigeren Tadels; hier dagegen braucht er nur zu ermahnen, dasselbe gar nicht erst aufkommen zu lassen. Es wäre daher überflüssig gewesen, diejenigen, die noch gar nicht gefehlt hatten, eindringlicher zu warnen; hat er ja auch, um sie zur Demut anzuleiten, nicht das Beispiel aus dem Evangelium, wo von der Bestrafung der Hochmütigen die Rede ist, hergenommen, sondern bei seiner Ermahnung auf das göttliche Vorbild hingewiesen; er redet mit ihnen wie mit freien, wie mit ebenbürtigen Kindern, nicht wie mit Sklaven. Denn zum Guten wird der Gutgesinnte und Edle durch das Beispiel der Rechtschaffenen angetrieben, der Schlechtgesinnte aber durch das Beispiel der nicht Rechtschaffenen; jener durch die Ehre, dieser durch die Strafe. Darum führt er auch im Briefe an die Hebräer den Esau als Beispiel an, „der um eine einzige Speise sein Erstgeburtsrecht verkaufte3“, und wiederum spricht er: „Wenn er verzagt, so hat meine Seele an ihm kein Wohlgefallen4.“ — Unter den Korinthern waren aber auch viele, die in Unzucht lebten; deswegen sagt er: S. 125 „Daß mich nicht wieder, wenn ich zu euch komme, mein Gott demütige und ich trauern müsse über viele, die früher gesündigt und nicht Buße getan haben wegen Unlauterkeit und Unzucht und Ausschweifung, die sie getrieben haben5.“ — „Damit ihr,“ fährt er fort, „untadelhaft und lauter seid“, d. h. unantastbar, rein; denn das Murren heftet eine nicht geringe Makel an. — Was bedeutet aber: „ohne Bedenken“? Ob gut, ob nicht gut? Bedenket euch nicht, will er sagen, mag es auch Mühe, mag es Anstrengung, mag es was immer kosten! Er sagt nicht: damit ihr nicht gestraft werdet — denn Murren ist etwas Strafbares; dies hat er im Briefe an die Korinther6 deutlich genug gezeigt —; allein hier sagt er nichts dergleichen, sondern spricht: „Damit ihr untadelhaft und lauter seid, unsträfliche Kinder Gottes inmitten eines verkehrten und verdorbenen Geschlechtes, unter denen ihr leuchtet wie Lichter in der Welt, indem ihr das Wort des Lebens festhaltet, mir zum Ruhme für den Tag Christi.“
Siehst du, daß er sie darin unterweist, nicht zu murren? Dieweil es nur unverständigen und stumpfsinnigen Sklavenseelen eigen ist, zu murren. Denn sage mir, murrt wohl ein Sohn, der im Hause des Vaters sich müht und für die eigene Person sich müht? Bedenke, will der Apostel sagen, daß du für dich selbst arbeitest, daß du für dich selbst sammelst! Jenen ist es eigen, zu murren, wenn sie für andere sich anstrengen, wenn sie für andere sich plagen müssen; wer aber für sich selbst sammelt, weshalb sollte der murren? Weil sein Reichtum sich nicht mehrt? Unmöglich. Wer freiwillig und nicht aus Zwang handelt, weshalb sollte der murren? Besser gar nichts tun als mit Murren; denn dadurch verliert auch das, was geschieht, allen Wert. Oder siehst du nicht, daß wir auch in unserem Hause immer die Phrase gebrauchen: Besser, dies geschieht gar nicht, als mit Murren? Und mehr als einmal schon haben wir es vorgezogen, auf unsere Bedienung zu verzichten, als das Murren des Dieners in Kauf zu nehmen. S. 126 Denn es ist ein Arges, ein Arges um das Murren; es grenzt an Gotteslästerung. Weshalb wären sonst die Israeliten so schwer bestraft worden7? Das Murren ist Undankbarkeit. Wer murrt, ist undankbar gegen Gott. Undank gegen Gott aber ist Gotteslästerung. — Denn besonders damals hörten die Verfolgungen gar nicht auf, eine Gefahr folgte der andern, es gab keine Ruhe, keine Rast, zahllos brachen die Schrecknisse von allen Seiten herein; jetzt aber herrscht tiefer Friede, jetzt waltet Bequemlichkeit.