3.
Siehst du, daß die Gerechtigkeit weitaus den Vorzug verdient? — Was ist ferner besser, der Neid oder die Mitfreude? Dieses alles laßt uns untersuchen, und wir werden finden, daß die Tugend, gleich einer wahrhaft zärtlichen Mutter, uns sicher stellt, das Laster aber gefahrbringend und verderblich ist. Höre nämlich, was der Prophet sagt: „Eine Feste ist der Herr denen, die ihn fürchten, und seinen Bund offenbart er ihnen1.“ Wer S. 209 sich keiner Schuld bewußt ist, der fürchtet niemanden; wer dagegen in der Sünde lebt, der traut keinem Menschen, sondern zittert sogar vor seinen Sklaven und betrachtet sie mit Mißtrauen. Doch was rede ich von den Sklaven? Er kann den Richterspruch seines eigenen Gewissens nicht ertragen. Nicht nur das Urteil der Welt, sondern auch das Urteil seines eigenen Innern quält ihn und läßt ihn nicht zur Ruhe kommen. — Was verlangt also der Apostel? Soll man in seinem Lebenswandel sich von der Rücksicht auf Menschenlob leiten lassen? Er sagt nicht: Richte dein Augenmerk auf Lob, sondern: Tue, was löblich ist, aber nicht mit Rücksicht auf Lob! „Was immer wahr“; denn jenes wäre Lüge. „Was immer „ehrbar“; die Ehrbarkeit gibt sich nach außen hin kund, die Heiligkeit aber haftet der Seele an. Er will sagen: Erregt keinen Anstoß und gebt keinen Anlaß zum Tadel! Damit du nicht glaubest, er habe mit den Worten: „Was immer rühmlich“ bloß das gemeint, was vor den Menschen getan wird, fügte er hinzu: „Wo irgendeine Tugend und wo irgendein Lob: darauf seid bedacht, das tuet!“ — Unaufhörlich sollen wir nach der Ansicht des Apostels damit beschäftigt sein, darauf sinnen, darüber nachdenken. Denn wenn wir nur Frieden mit uns selbst haben wollten, so wird auch Gott mit uns sein; wenn wir aber im eigenen Innern Aufruhr erregen, so wird der Gott des Friedens nicht mit uns sein. Denn die Seele hat keinen gefährlicheren Feind als das Laster. Das heißt: gefahrlose Sicherheit verschaffen kann ihr nur der Friede und die Tugend. Wir müssen daher zuerst das Unsrige tun, dann werden wir Gott auf unserer Seite haben. Gott ist nicht ein Gott des Krieges und des Kampfes. Beendige auch du jeden Krieg und Kampf, sowohl gegen ihn als gegen den Nächsten; sei friedfertig gegen alle! Bedenke, wann Gott dir die Seligkeit verheißt! „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden2.“ Solche ahmen beständig den Sohn Gottes nach; so ahme denn auch du ihn nach; sei friedfertig! Je mehr dein Bruder dich anfeindet, desto größer ist dein Verdienst. Denn höre, S. 210 was der Prophet sagt: „Mit denen, die den Frieden hassen, war ich friedlich3.“ — Das ist Tugend, das ist über jeden menschlichen Begriff erhaben, das bringt uns Gott nahe. An nichts hat Gott so großes Gefallen als an der Versöhnlichkeit. Dies erwirkt die Sündenvergebung, dies hebt deine Verschuldungen auf. Wenn wir aber untereinander in Streit und Hader leben, so entfernen wir uns dadurch weit von Gott. Denn aus dem Streit entsteht Feindschaft, aus der Feindschaft aber Rachsucht. Reiß die Wurzel aus, so kann auch die Frucht nicht wachsen! Auf diese Weise werden wir die irdischen Dinge verachten lernen. Denn unmöglich, ganz unmöglich ist Streit und Hader in den geistlichen Dingen, sondern was auch Derartiges dir unter die Augen kommen mag, es sei Zank, es sei Neid oder was immer, alles hat seinen Entstehungsgrund in irdischen Dingen; denn jeder Streit entspringt entweder aus Habsucht oder Neid oder Eitelkeit. Wenn wir daher friedliebend sind, so werden wir alles Irdische verachten lernen. — Jemand hat dir dein Geld geraubt? Aber er hat mir keinen Schaden zugefügt, wenn er mir nur nicht den himmlischen Schatz entriß. — Er hat deinen Ruhm beeinträchtigt? Aber nicht den Ruhm vor Gott, sondern nur den nichtigen; denn ein Nichts ist dieser Ruhm, er ist ein Ruhm nur dem Namen nach, oder besser gesagt Ruhmlosigkeit. — Er hat dir die Ehre geraubt? Aber nicht dir, sich selbst hat er sie geraubt. Denn gleichwie der Übeltäter nicht so fast Übles tut als Übles erleidet, ebenso richtet auch derjenige, der seinem Nächsten Nachstellungen bereitet, sich selber zuerst zugrunde. „Denn wer seinem Nächsten eine Grube gräbt, fällt selbst hinein4.“
Laßt uns daher nicht anderen nachstellen, damit wir nicht uns selbst schaden! Denn bedenken wir das wohl: Wenn wir die Ehre anderer zu untergraben suchen, so schaden wir uns selbst, so stellen wir noch mehr uns selbst nach. Dem andern nämlich schaden wir höchstens, wenn es uns gelingt, bei den Menschen; uns selbst aber S. 211 fügen wir Nachteil bei Gott zu, indem wir ihn dadurch erzürnen. Schaden wir doch nicht uns selbst! Denn gleichwie das Unrecht, das wir dem Nächsten antun, auf uns selbst zurückfällt, ebenso kommt das Gute, das wir ihm erweisen, uns selbst zugute. Wenn also dein Feind dir schadet, so hat er dir eigentlich eine Wohltat erwiesen, wenn du verständig bist. Darum sollst du ihm nicht nur nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern vielmehr ihm Gutes tun. — Aber, sagt man, die erhaltene Wunde haftet zu tief. Nun, so bedenke, daß du nicht ihm die Wohltat erweisest, sondern daß du ihn (vielmehr) strafst, dir selbst aber die Wohltat zugute kommt; dann wirst du bald dazu kommen, ihm Gutes zu tun. — Wie nun? Soll ich mich dabei von einer solchen Absicht leiten lassen? Du solltest es freilich nicht in dieser Absicht tun; aber wenn dein Herz sich anders nicht dazu verstehen will, so magst du es selbst auf diesem Wege dahin bringen, und du wirst dich bald bestimmen, die Feindschaft aufzugeben, wirst dem Feinde hinfort wie einem Freunde Gutes tun und so die zukünftigen Güter erlangen; deren wir alle teilhaftig werden mögen durch die Gnade und Menschenfreundlichkeit unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater gleichwie dem Heiligen Geiste Herrlichkeit, Macht und Ehre sei, jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen.