Einleitung.
S. 9 Der heilige Paulus schreibt in seinem Römerbriefe: „Solange ich Heiden-Apostel bin, will ich meinem Amte Ehre machen: ob ich etwa auf irgend eine Weise Die, mit denen ich dem Fleische nach verwandt bin, zur Nacheiferung anzuregen vermöge.“1 Und wieder an einer andern Stelle: „Denn Der mit Petrus wirksam war zum Apostelamte bei den Beschnittenen, der war auch mit mir wirksam unter den Heiden.“2 Wenn er also Heiden-Apostel war (denn in der Apostelgeschichte spricht der Herr zu ihm: „Ziehe hin, denn ich will dich ferne unter die Heiden senden!“3, was hatte er denn mit den Hebräern zu thun, und warum schrieb er an diese sogar einen Brief, zumal sie gegen ihn, wie Das aus vielen Stellen hervorgeht, feindlich gesinnt waren? Höre, was Jakobus zu ihm spricht: „Siehst du, Bruder, wie viele Tausende der Juden es gibt, welche gläubig geworden? ... und Diese alle haben von dir gehört, daß du den Abfall vom Gesetze lehrest.“4 Auf diese Weise wurde er oft und vielfach angegangen. S. 10
Warum aber, könnte Jemand fragen, schickte ihn Gott nicht zu den Juden, ihn, der durch seine Gesetzeskunde (denn zu den Füßen Gamaliels war er im Gesetze unterrichtet worden und eiferte sehr für dasselbe) am meisten im Stande war, sie zu bekehren? Weil sie ihn dann gerade darum mehr angefeindet hätten. Da nun Gott vorauswußte, daß sie ihm nicht Gehör schenken würden, sprach er zu ihm: „Ziehe hin zu den Heiden; denn Jene werden dein Zeugniß über mich nicht annehmen.“5 Und er sprach: „Ja, Herr, Diese wissen, daß ich Diejenigen, welche an dich glaubten, in Gefängnisse verschließen und in den Synagogen geißeln ließ. Und als das Blut des Stephanus, deines Zeugen, vergossen ward, stand ich dabei, billigte seine Ermordung und verwahrte die Kleider Derer, die ihn tödteten.“6 Und Dieß führt er an zum Zeichen und Beweise, daß sie ihm nicht glauben würden. Und so verhält es sich wirklich. Wenn ein ganz niedrig gestellter Mensch, über den man kaum ein Wort verlieren soll, von irgend einem Volke abtrünnig geworden, so kränkt Das Diejenigen, von denen er abgefallen ist, nicht besonders; fällt aber ein hochangesehener Mann, der bisher die Interessen der Seinigen mit großem Eifer und mit Thatkraft verfochten, von seinen Genossen ab, so schmerzt Das dieselben im höchsten Grade und versenkt sie in ein Übermaß von Betrübniß, weil er durch seinen Abfall und Übertritt ihrem Bekenntnisse einen schweren Schlag versetzt.
Aber noch ein anderer Grund trat hinzu, sie im Unglauben zu erhalten. Was ist das für einer? Weil Petrus und seine Genossen mit Christus zusammen waren und seine Zeichen und Wunder sahen, Paulus aber sich keines solchen Vortheiles erfreute, sondern streng zu den Juden hielt, dann aber plötzlich abfiel und Einer der Unsrigen wurde, was unsere Sache in hohem Grade fördern half. S. 11
Es könnte auch Jemand sagen, Jene hätten aus Zuneigung und weil sie ihren Meister zärtlich liebten, für diesen Zeugniß abgelegt; Dieser aber trete als Zeuge für die Auferstehung auf, da er doch zumeist nur die Stimme gehört hätte. Darum sind sie seine grimmigen Feinde, thun Alles gegen ihn und zetteln Aufruhr an, um ihn zu vernichten. Aus diesem Grunde hatten die Ungläubigen gegen ihn eine gehässige Gesinnung.
Aber weßhalb waren ihm denn die Gläubigen abgeneigt? Weil er genöthiget war, als Heiden-Prediger das Christenthum rein zu verkünden; wäre er aber in Judäa geblieben, so hätte er darauf keine Sorge zu verwenden gebraucht. Denn da Petrus und die mit ihm waren, zu Jerusalem predigten, woselbst der Gesetzeseifer groß war, mußten sie die Beobachtung des Gesetzes befehlen. Paulus aber stand ganz frei da. Auch die Zahl der gläubigen Heiden war größer als die der Juden, die gleichsam draussen waren. Das löste das Gesetz, und sie beobachteten nicht so große Sorgfalt in Bezug auf dasselbe, weil er das Christenthum rein verkündete. Wohl scheinen sie in dieser Beziehung ihn durch die Menge einschüchtern zu wollen, indem sie sagen: „Siehst du, Bruder, wie viele Tausende der Juden es gibt, welche gläubig geworden? . . und Diese alle haben von dir gehört, daß du den Abfall vom Gesetze lehrest.“7
Warum schreibt er denn an die Juden, da er doch nicht ihr Lehrer war? Wohin schreibt er an sie? Mir scheint nach Jerusalem und nach Palästina. Und in welcher Weise schreibt er? In der Weise, in der er auch taufte, ohne dazu einen Befehl erhalten zu haben; „denn ich bin,“ sagt er, „nicht ausgesendet worden, zu taufen;“8 es war ihm aber auch nicht verboten; er that es so nebenbei. S. 12 Warum sollte er aber Denen nicht schreiben, für welche er sogar im Banne sein wollte?9 Darum sagt er: „Wisset, daß unser Bruder Timotheus freigelassen ist; mit ihm will ich, wenn er bald eintrifft, euch sehen;“10 denn Paulus war noch nicht gefangen genommen. Zwei Jahre verlebte er dann zu Rom in Gefangenschaft; darauf wurde er freigelassen und kam nach Spanien, worauf er nach Judäa reiste und die Judenchristen besuchte. Nachdem er wieder nach Rom gekommen war, wurde er auf Befehl des Kaisers Nero hingerichtet. - Der Brief an Timotheus muß demnach älter sein als dieser, da er in demselben schreibt: „Denn ich werde jetzt geopfert;“11 und wiederum: „Bei meiner ersten Verantwortung ist mir Niemand beigestanden.“12 Denn oftmals kämpfte er zu seiner Vertheidigung, wie er im Briefe an die Thessalonicenser schreibt: „Ihr seid Nachahmer geworden der Gemeinden Gottes, die in Judäa sind.“13 Und im Briefe an diese selbst (Hebräer) spricht er: „Mit Freuden ertruget ihr den Raub euerer Güter.“14 Siehst du ihre Kämpfe? Wenn sie aber den S. 13 Aposteln nicht nur in Judäa, sondern auch mitten unter den Heiden so hilfreich begegneten, wie werden sie nicht erst den Gläubigen Beistand geleistet haben? Darum legt er auch für sie, wie man sieht, eine besondere Sorgfalt an den Tag; denn er sagt: „Ich reise nach Jerusalem, den Heiligen zu dienen,“15 und da er die Korinther zur Mildthätigkeit mit dem Bemerken ermuntert, daß die Macedonier bereits einen Beitrag geleistet, und beifügt: „Wenn es der Mühe werth ist, daß auch ich reise,“16 spricht er sich in diesem Sinne aus. Und durch die Worte: „Nur sollten wir der Armen eingedenk sein, was auch ich zu thun beflissen gewesen,“17 besagt er Dasselbe. Und wenn er spricht: „Sie gaben mir und Barnabas die Hand zur Gemeinschaft, daß wir unter den Heiden, sie aber unter den Beschnittenen predigen sollten,“18 sagt er wieder Dasselbe. Denn Dieses spricht er nicht von den dortigen Armen überhaupt, sondern in der Mildthätigkeit gegen dieselben sollte Gemeinschaft bestehen. In Bezug auf die Verkündigung des Wortes haben wir die Vertheilung getroffen, daß wir den Heiden, Jene den Beschnittenen predigen sollten; in der Fürsorge für die Armen haben wir keine solche Theilung vorgenommen. Und überall sieht man, daß Paulus um diese gar sehr besorgt ist. Das war aber ganz natürlich. Unter den anderen Völkern, wo Juden und Heiden durcheinander lebten, war die Sache anders gestaltet. Da sie dort (in Judäa) bis dahin ihre eigene Gesetzgebung und Regierung zu besitzen und Vieles nach eigenen Gesetzen zu verwalten schienen, weil die Regierung, die sich noch nicht gänzlich in den Händen der Römer befand, noch keine festen Normen hatte, so übten sie begreiflicher Weise eine bedeutende Gewaltherrschaft aus. Denn wenn sie auch in anderen Städten, z. B. in Korinth,19 den Vorsteher der Synagoge vor dem Richterstuhle des Proconsuls mit S. 14 Schlägen bedienten, und Gallio sich darum gar nicht kümmerte, wird Das in Judäa nicht auch so gewesen sein?
Du siehst nun, wie man sie in anderen Städten vor die Obrigkeit führt und diese, wiewohl sie heidnisch ist, auffordert, Hilfe zu leisten. Dort aber machen sie sich keine solche Sorge, sondern setzen selbst ein Gericht zusammen und verurtheilen, welche sie wollen. So haben sie den Stephanus hingerichtet, so die Apostel gegeißelt, ohne sie vor die Obrigkeit geführt zu haben. So würden sie auch den Paulus getödtet haben, hätte sich ihnen nicht der Tribun widersetzt. Dieses geschah, als noch die Hohenpriester waren und der Tempel mit seinem Gottesdienste und den Opfern bestand. Siehe, wie selbst Paulus vor dem Richterstuhle des Hohenpriesters spricht: „Ich wußte nicht, daß es der Hohepriester ist,“20 und zwar in Gegenwart des römischen Archon. Denn damals besaßen sie noch eine bedeutende Macht. Bedenke nun, wie viel demnach die Gläubigen zu Jerusalem und in Judäa zu leiden hatten! Wenn daher der Apostel für Diejenigen, die noch nicht gläubig geworden, im Banne sein wollte; wenn er für die Gläubigen so dienstbereit war, daß er im Falle der Noth selbst reifen wollte und für sie überall sorgt: wie kann man sich wundern, daß er auch durch einen Brief sie ermuntert und tröstet und die Wankenden und bereits Gefallenen aufrichtet? Denn sie schienen ob der vielen Trübsale fast hoffnungslos zu verzweifeln. Das scheint er auch am Ende des Briefes auszudrücken, indem er spricht: „Darum richtet wieder auf die erschlafften Hände und die wankenden Kniee!“21 Und wiederum: „Denn nur noch eine kleine Weile, und es wird kommen, der da kommen soll, und er wird nicht zögern.“22 Und an einer anderen Stelle: „Wenn ihr ohne Züchtigung wäret, deren Alle theilhaftig S. 15 geworden, so wäret ihr Bastarde und keine Kinder.“23 Denn als Juden hatten sie von ihren Vätern gelernt, daß man Gutes und Schlimmes naheliegend erwarten und demgemäß leben müsse; damals aber bestand das Gegentheil: das Gute nur in der Hoffnung und nach dem Tode, das Schlimme aber jetzt gleich, und so war es ganz natürlich, daß Viele nach langem Ausharren kleinmüthig wurden, worüber sich Paulus weitläufig ausspricht. Dieß jedoch werden wir zur rechten Zeit erklären; bis dahin genüge die Bemerkung, daß er nothwendiger Weise Denen schrieb, für welche er so große Fürsorge an den Tag legte. Der Grund, warum er nicht zu ihnen geschickt wurde, war offenbar; ihnen aber zu schreiben, war ihm nicht verwehrt. Daß sie aber kleinmüthig wurden, zeigt er mit den Worten: „Darum richtet wieder auf die erschlafften Hände und die wankenden Kniee und macht gerade Tritte!“24 Und wieder: „Denn Gott ist nicht ungerecht, daß er vergessen sollte eures Thuns und der Liebe.“25 Die Seele wird nämlich, wenn sie von vielen Versuchungen ergriffen wird, oft vom Glauben abgezogen; darum gibt er die Mahnung, festzuhalten an dem Gehörten (den empfangenen Heilslehren) und nicht ungläubigen Herzens zu sein. Darum redet er auch in diesem Briefe besonders viel über den Glauben und zeigt zu diesem Ende in vielen Beispielen, daß auch Jenen (den Vätern) nicht alsbald die Güter gegeben wurden, die ihnen verheissen waren. Und damit sie überdieß nicht wähnen möchten, daß sie ganz verlassen seien, empfiehlt er folgende zwei Stücke: Erstens Alles, was da kommen mag, muthig zu ertragen; dann zuversichtlich die Vergeltung zu erwarten; denn Gott werde weder den gerechten Abel noch die anderen Gerechten der Folgezeit unbelohnt lassen. Er tröstet sie aber auf dreifache Weise: Erstens durch die Leiden, welche Christus erduldet hat, der S. 16 da selber spricht: „Der Knecht ist nicht größer als sein Herr;“26 zweitens durch die Güter, welche für die Gläubigen hinterlegt sind; drittens durch die Übel. Und er bekräftigt Das nicht bloß durch das Zukünftige, was weniger überzeugt hätte, sondern auch durch das Vergangene, was ihren Vätern begegnet war. Dasselbe thut auch Christus, indem er spricht: „Der Knecht ist nicht größer als sein Herr;“ und wieder: „Viele Wohnungen sind bei dem Vater,“27 und beklagt das unsägliche Elend Derjenigen, die nicht geglaubt haben. Er redet auch viel über das alte und neue Testament, was ihm sehr nützte, um von der Auferstehung zu überzeugen. Und damit sie etwa nicht ob seiner beiden Zweifel an seiner Auferstehung schöpfen könnten, beweist er dieselbe aus den Propheten und zeigt, daß nicht das Judenthum, sondern das Christenthum ehrwürdig sei. Und weil der Tempel mit seinen Opfern noch stand, sagte er: „Lasset uns nun hinausgehen ausserhalb des Lagers und seine Schmach tragen.“28 Es stand ihm aber auch Dieses entgegen: Es war natürlich, daß Einige sagten: Wenn Das nur Schatten und Bild ist, warum ist es nicht vorübergegangen und gewichen, als die Wahrheit erschien, sondern blühet noch fort? Leise deutet er an, daß Dieß seiner Zeit geschehen werde. Daß sie aber lange Zeit im Glauben und in den Trübsalen ausharrten, erklärt er in den Worten: „Denn die ihr Lehrer sein sollet der Zeit nach;“29 und: „Daß nicht in Einem von euch sei ein böses, ungläubiges Herz;“30 und: „Ihr seid Nachahmer geworden Derjenigen, welche durch Glauben und Geduld Erben der Verheissungen wurden.“31
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Röm 11,13.14 ↩
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Gal 2,8 ↩
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Apg 22,21 ↩
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Apg 21,20 ↩
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Apg 22,18 ↩
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Apg 22,19.20 ↩
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Apg 21,20 ↩
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1 Kor 1,17 ↩
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Röm 9,3. Ἀνάϑεμα γενέσϑαι - im Banne sein, mit dem Vertilgungsfluche beladen werden - ist die Formel der kirchlichen Verdammung. Ἀνάϑεμα bedeutet ursprünglich ein Weihegeschenk, das der Gottheit gebracht wurde, und ist die Uebersetzung des hebräischen חדם. Dieß bedeutet aber hauptsächlich solche Personen oder Sachen, die der Gottheit devovirt, ihrem Strafgerichte unwiderruflich verfallen sind, z. B. die Kanaaniter, ihre Städte, ihr Hab und Gut. Es schließt also den Begriff der Vertilgung in sich. Auf's Christenthum übertragen verliert es nun natürlich jenen äusserlichen Charakter, erhält aber eine um so intensivere geistige Bedeutung: es bezeichnet den Ausschluß von den Gnadengütern Christi oder die ewige Verdammniß. Vrgl. Al. Meßmer, Erklärung des Briefes an die Galater S. 24. ↩
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Hebr 13,23 ↩
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2 Tim 4,6 ↩
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2 Tim 4,16 ↩
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1 Thess 2,14 ↩
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Hebr 10,34 ↩
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Röm 15,25 ↩
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1 Kor 16,4 ↩
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Gal 2,10 ↩
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Gal 2,9 ↩
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Apg 18,17 ↩
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Apg 23,5 ↩
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Hebr 12,12 ↩
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Hebr 10,37 ↩
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Hebr 12,8 ↩
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Hebr 12,12.13 ↩
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Joh 15,20 ↩
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Joh 15,20 ↩
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Joh 14,2 ↩
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Hebr 13,13 ↩
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Hebr 5,12 ↩
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Hebr 3,12 ↩
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Hebr 6,12 ↩